Konfrontation mit einer Selbstvernichtung. Stefan G Rohr
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Natürlich findet man fast alles wonach Suizid-Geschädigte, im Kerne die eigentlichen Suizid-Opfer – denn das sind wir Hinterbliebenen, die meist jedoch recht profan als „Hinterbliebene“ bezeichnet werden, ganz eindeutig – in einer solchen Zeit suchen. Doch es sind derart viele Mosaiksteinchen, dass es schon einer Sisyphus-Anstrengung gleichkommt, hieraus die Erkenntnisse zu ziehen, die für die Bewältigung des aktuellen Traumas nützlich und hilfreich sind. Hierin besteht meinerseits keine Kritik, ich beschwere mich auch nicht, ebenso wenig möchte ich eine Diskreditierung der veröffentlichten Texte und Abhandlungen hiermit verbinden. Allesamt sind diese im besten Sinne verfasst und gemeint, inhaltlich in großer Zahl hervorragend und fundiert. Und dafür gebührt ihnen Respekt und Dankbarkeit. Was ich lediglich anführen möchte, schon als Begründung für meine eigene, Ihnen nun vorliegende Arbeit, ist die persönliche Erfahrung, dass in der schlimmsten Zeit eines Lebens, nach dem Suizid eines geliebten Menschen, das Kaleidoskop der Empfindungen und Wissensbegehrlichkeiten so bunt und facettenreich ist, dass das „Netz“ hier nur dann Hilfe bereit hält, wenn man sich einer Suche widmet, die sich schlussendlich als extrem zeitraubend herausstellen wird, die geeigneten Informationen sortiert und hiernach für den eigenen „Fall“ qualifiziert werden müssen.
Wie so häufig liegen Welten zwischen Theorie und Praxis. Steht man vor dem Scherbenhaufen eines Suizids im eigenen Umfeld gibt es allenfalls Ansätze von Parallelen und Überschneidungen des jeweiligen (vor allem fallbezogenen) Anspruches (=Wunsch) und der Umsetzbarkeit (=Informationsgewinnung und Erklärung) passender, weiterführender oder gar lösungsgeeignete Erkenntnisse. Dieser Umstand bedeutet vor allem dann ein Martyrium für alle Hinterbliebenen, wenn die folgenden Fakten vorherrschen:
Der Suizid wurde völlig überraschend begangen.
Es fehlt den Betroffenen (individuell) an der vorauslaufenden Erkennbarkeit von psychischen Veränderungen beim Suizidenten.
Es wurde kein Abschiedsbrief hinterlassen.
Diese Aspekte haben das Potenzial, die Zurückgelassenen bis an die Grenzen der psychischen Belastbarkeit zu katapultieren, und nicht selten geraten diese Menschen dann selbst in die Gefahr eines eigenen Suizids („Werther-Effekt“). Je höher der Grad der Überrumpelung, verbunden mit dem Grad der Informationslosigkeit, ist, desto massiver entwickeln sich Verzweiflung und Schmerz, desto erheblicher wird es, Kenntnisse zusammenzutragen, die geeignet sind, eine Verbindung, gegebenenfalls sogar eine Übereinstimmung mit dem gerade zu verarbeitenden Individualfall herzuleiten. Dabei ist es mir selbst so ergangen, dass ich sogar einzelne Sätze aus wissenschaftlichen Abhandlungen oder journalistischen Fachbeiträgen als „heilsame“ oder „erhellende“ Quelle herausgelöst und erwogen habe. So sehr hängt man in diesen Phasen an jeder Kleinigkeit, die – wenn vielleicht auch nur durch Interpretation – geeignet scheint, einen Beitrag zur Erklärung des Unerklärlichen, des Unfassbaren abgeben zu können.
Es hängt ganz sicher vom individuellen Charakterbild eines jeden Betroffenen ab, wie tief in der Recherche gegangen wird, wie lange diese Aktivitäten betrieben werden, und wie akribisch die Informationsgewinnung (inklusive deren Analyse, Sortierung und Bewertung) umgesetzt wird. An zweiter Stelle steht dann die persönliche und soziale Befähigung einen „lauten“ Abgleich, eine Diskussion oder auch nur ein Gespräch mit anderen über die immer wieder neu erarbeiteten Erkenntnisse realisieren zu können. Hier ist demnach das familiäre Umfeld, ebenso der enge Freundeskreis, vielleicht aber auch ein Therapeut oder Trauerbegleiter gefragt, mit emotionaler Intelligenz und ohne Egoismus oder falschen Lebensweisheiten zu reagieren. Daran mangelt es aber leider sehr häufig. Und die Schäden, die sich daraus zusätzlich ergeben können, sind besonders tragisch, da diese bei Weitem leichter zu vermeiden sind, als es der Katastrophenauslöser, der Suizid, an sich war (oder im Nachgang zu sein scheint).
Ich werde in diesem Buch Themen ansprechen, von denen ich auf der Basis meiner eigenen Erfahrungen (und Recherchen) glaube, dass diese das wesentliche Problemspektrum von Hinterbliebenen nach dem Suizid eines geliebten Menschen darstellen, ohne jedoch den Anspruch auf Vollständigkeit zu verfolgen. Hierbei werde ich es tunlichst unterlassen, Sie als Leser/in mit Statistiken oder pauschalisierenden Wissenschaftserkenntnissen zu verwirren, besser gesagt zu langweilen oder gar noch mehr: zu frustrieren.
Die Kernfragen der Hinterbliebenen bleiben offen, und die meisten dieser können ohnehin von der Wissenschaft nicht wirklich und eindeutig beantwortet werden, da ein vollendeter Suizid nun einmal den Tod im Wesen trägt, und Tote können kein validierbares Zeugnis mehr über Psyche oder Motive abgeben. Aus mir spricht hier nicht etwas der bittere Sarkasmus. Im Gegenteil: Es sind die Gelehrten selbst, die die immer noch als sehr vage und löchrig beurteilte Suizid-Forschung mit diesem Aspekt als stark lückenhaft erklären. Es herrschen zwar noch diverse weitere Gründe für diesen Umstand vor, doch auf diese werde ich erst später näher eingehen.
So mögen dann auch die biologischen oder Gen-relevanten (Stichwort Vererbbarkeit) Fakten und Forschungserkenntnisse nicht helfen, allenfalls dem interessierten (und verständigen) Interessenten einen medizinisch/bio-chemischen Überblick über Zusammenhänge von Botenstoffen, Synapsen, Gehirn und Wirkungsweisen von pharmakologischen Antidepressiva ermöglichen. Das brennende und bohrende „Warum“, die Fragen der eigenen „Schuld“, die Rekapitulation von „Hilfe- und Verhinderungsmöglichkeiten“ oder die Wirkung und Bedeutung von „eigenen (auslösenden!) Fehlern“ im Vorfeld des (vollendeten/versuchten) Suizids werden indes durch all das nicht beantwortet.
Ohnehin steht man als „Opfer“ recht allein dar. Ich will zwar nicht unterminieren (erst recht nicht diskreditieren), dass es diverse Hilfeorganisationen, Institutionen und auch eine Vielzahl an Therapeuten gibt, deren Angebote in der Regel leicht zu erreichen sind, doch stellt die Galaxie, in der man selbst in Nanosekunden durch den Suizid katapultiert worden ist, eine derart isolierte, ferne und fremde Sphäre dar, dass es selbst das engste eigene Umfeld schwer hat, in dieser Phase in das Gemüt des Hinterbliebenen so einzudringen, dass sinnvolle und wirksame Hilfe möglich wird. Und wenn es um Termine bei Therapeuten geht, dann landet man unmittelbar auf der langen Warteliste und sieht sich dem Umstand ausgesetzt, vielleicht in zwölf bis sechzehn, manchmal aber auch in zwanzig bis dreißig Wochen die erste Therapiesitzung absolvieren zu können.
Mir ist es auch bewusst, dass die Berichterstattung, das Erzählen und Schildern von fremden Suizidfällen den gerade selbst Betroffenen in seiner ureigenen und persönlichen Lage entweder gar nicht interessieren, oder diesen additiv so hoch belasten, dass es zu einer Qual wird, hierüber zu hören oder zu lesen. Als ich einem mir seit fast dreißig Jahren gut bekannten Menschen nach einigen Wochen vom Suizid meiner Frau erzählen konnte, war er natürlich äußerst betroffen. Als er den ersten Schock verwunden hatte, holte er aus und berichtete mir vom Suizid eines entfernte Verwandten in seinem angeheirateten Familienumfeld, der (zu allem Übel) auch noch am gleichen Tage, auf die gleiche Weise geschah. Er meinte es sicher gut, wollte mir Verständnis aufzeigen, Empathie belegen, mich vielleicht auch beruhigen („Du bist nicht der Einzige!“). Doch ich fuhr ihn harsch an und verlangte, dass er mir „eine solche“ Geschichte doch ersparen würde. Denn es war mir völlig unerträglich, mich mit diesen (fremden) Geschehnissen auch noch auseinander zu setzen. Es erhöhte meine Qual so immens, dass mir spontan übel wurde und ich mich fast übergeben hätte.
Dementgegen aber ist es unerlässlich, in einem Buch wie diesem die Hintergründe durch den exemplarischen Fall zu erklären. Für Sie als Leser/in habe ich deshalb die Schilderung meines „Falles“ im Wesentlichen