Der Hafen meiner Träume. Eberhard Schiel

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Der Hafen meiner Träume - Eberhard Schiel

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der einfach zum lebenden Inventar des Hafens gerechnet werden muß.

      Da ist da noch ein Mann, den wir “Tempo” rufen. Er läuft auf und ab durch die Ossenreyer-Straße. Immer in Eile. Sein Äußeres läßt auf einen verkrachten oder abgestürzten Künstler schließen. Tempo hat lockiges, schwarzes Haar, rötliche Wangen, rot geschminkte Lippen. Er trägt einen hell gestreiften Anzug, dazu Lackschuhe. Auf dem Kopf ein kecker Strohhut, und in der Hand schwenkt er einen Spazierstock. So ist er mir unzählige Male begegnet. Über ihn ranken sich die tollsten Geschichten. Einer sagt, er hätte im Zirkus gearbeitet als Seiltänzer und wäre tatsächlich abgestürzt, ein anderer weiß von einer tragisch geendeten Liebesgeschichte zu berichten, ein dritter will in ihm einen bekannten Schauspieler entdeckt haben, der wegen irgendeines Vergehens im Gefängnis gelandet und dort verrückt geworden sei. Wie gesagt, die Spekulationen um seine Person gehen ins Uferlose. Ich hätte zu gerne die Geschichte dieses ominösen Menschen aus seinem eigenen Munde gehört. Doch ich bin zu feige, ihn auf der Straße anzuhalten, um mit ihm ins Gespräch zu kommen. Vielleicht wäre er auch nicht mehr geistig in der Lage gewesen, seinen Lebensweg zu schildern, und doch hat es mich später sicher geärgert, über ihn nichts erfahren zu haben. So geht man oft Leuten aus dem Wege, die mitunter darauf warten, mit dem Anderen freundlich zu reden. Denn jeder Mensch hat seine eigene Geschichte, und diese ist mitunter schillernd und abenteuerlich, aber wir, besonders wir im Norden, gehen achtlos an ihnen vorbei, suchen im Lokal krampfhaft nach einem freien Tisch, wo ein freier Stuhl manchmal viel mehr zu bieten hätte.

      Im Sommer, wenn es vor Urlaubern in der Stadt nur so wimmelt, rückt die große Zeit für “Matschmul” heran. Sein Revier ist die Waldschenke, im Volksmund “Assi-Markt” genannt, wo die Fremden nach Bockwurst anstehen. Setzen sie sich zu ihm an einen verwitterten Holztisch, nimmt er sie unversehens mit auf hohe See, spinnt den Seemannsfaden weiter und weiter, umsegelt Kap Horn und das Kap der Guten Hoffnung, übersteht Stürme und Schiffbrüche, erzählt von den schönen Mädchen auf Hawaii, von wilden Stämmen an Madagaskas Küste, von der Meuterei auf der “Hertha”, und dem Streit mit seinem Kapitän. Die Leute sind hingerissen von Matschmuls Abenteuern. Sie geben ihm einen aus, manchmal auch zwei, oder ein Bier und einen Korn. Dann grient er verwegen in die gezückten Fotoapparate, zieht seine Schiffermütze schräg ins gebräunte Gesicht, nuckelt kräftig an seiner Pfeife oder summt vergnügt vor sich hin. Niemand seiner zahlreichen Anhänger aus Dresden, Leipzig oder anderswo hat je erfahren, wer er wirklich gewesen ist, ein kleiner Ganove im maritimen Kostüm, der viel Durst, aber kein Geld hatte.

      Wenn es auch nur einen einzigen Menschen in Stralsund gibt, der in völliger Unschuld lebt, dann wird man unbedingt an Ingo denken. Er mag so um die dreißig Jahre alt sein. Ich sehe ihn häufig auf dem Johannismarkt, an der Seite seiner Mutter. Da steht er meistens an einer Losbude, oder an einem Karussell, beobachtet das Treiben der Leute, lacht über die belanglosesten Dinge, sieht dabei so treuherzig seine Mutter an, daß niemand es wagt ihn zu hänseln. Bei Ingo hörte der Spaß auf, den man ansonsten mit den Sonderlingen treibt. Wir haben alle Mitleid mit ihm, weil er mit dem Gemüt eines fünfjährigen Kindes denkt und fühlt. Als seine Mutti stirbt, hat Ingo kein Vergnügen mehr an den Lustbarkeiten der Schausteller. Ich sehe ihn nie wieder auf dem Jahrmarkt. Seine neue Wirkungsstätte ist die Gegend am Hauptbahnhof, wo er den Verkehr beobachtet, Leute betrachtet, die von der Reise kommen, wo er über den Verkehrspolizisten staunt, der in einer Kanzel die Autos dirigiert, und was er sonst noch zu sehen kriegt. Eines Tages ist er gänzlich aus dem Stadtbild verschwunden, wie die anderen Stralsunder Originale vor ihm. Schade, er gehörte zu unserer Stadt wie das Meer und der Hafen, die Schiffe und die Möwen. Der Verlust an Sonderlingen jeglicher Art hat uns nicht gerade reicher gemacht. Ich vermisse sie.

      5. Kapitel: Die Leinwand ist meine Schultafel

      Wann ist man kein Kind mehr? Wenn man vierzehn ist, sagen die Erwachsenen. Dann kriegt man einen Personalausweis, wo drinsteht, wie alt man ist, damit man nicht vergißt, kein Kind mehr zu sein. Die Größe wird vermerkt, und die Farbe der Augen und die Adresse. Und das man noch nichts ausgefressen hat, aber das steht weiter hinten. Ab heute habe ich auch so einen Deutschen Personalausweis, abgekürzt DPA. Sicherheitshalber zeige ich ihn überall herum, bei Bäcker Krowas und bei Fleischer Drews in der Fährhofstraße, im HO-Laden an der Gentzkowstraße und im Fischladen auf dem Frankendamm. Der DPA begleitet mich, wohin ich auch gehe. Ich bin stolz, im Besitz eines Personalausweises zu sein. Im Kino soll man den blauen Ausweis zeigen, wenn man über 14 Jahre alt ist, aber wie ein 13-jähriges Kind aussieht. Dort gehe ich gleich an drei Frauen vorbei. Zunächst zur Kasse, wo man die Karten kauft. Man kann im Union-Theater wählen zwischen Sperrsitz, Parkett und 1. Rang. Manchmal ist auch alles belegt, bis auf die erste Reihe. Das deutet auf einen guten Film hin. Man muß zu ihm hoch gucken. Dann zeigt man die gekauften Billetts der Kartenabreißerin vor. Sie prüft sie, ob sie gültig sind. Ist das aufgestempelte Datum von heute deutlich zu sehen und die Abrißecke noch vorhanden, darf man in den Vorraum. Wir werden weitergereicht an ein Monstrum mit Taschenlampe. Es ist die Platzanweiserin. Die Dicke wohnt gleich schräg gegenüber vom Kino, bei Uhrmachermeister Spaltner, in einer kleinen Bude. Ob mit Mann oder ohne Mann, wissen wir nicht. Wir wissen nur, daß sie gerne mit der Taschenlampe spielt. Ansonsten ist Frau Beyer, so heißt sie wohl, sehr streng zu den jüngeren Besuchern. Ich glaube, sie mag generell keine Kinder, denn immer meckert sie an uns herum. Wir dürfen im Kino nicht essen, keine Witze erzählen, keine Bemerkungen machen, nicht zu spät erscheinen, keinen Szenenapplaus spenden, keine Buh-Rufe ausstoßen. Nur still dasitzen und gebannt auf die Leinwand gucken, das dürfen wir. Wenn sie mich im Dunkeln auf meinen Platz führt, dann denke ich, sie würde mich viel lieber bei der Polizei abliefern. Man hat immer ein schlechtes Gewissen an ihrer Seite. Sie guckt auch ganz genau auf den Personalausweis, prüft, ob es nicht der Ausweis eines älteren Bruders ist, denn dann nimmt sie dich am Kragen und bringt einen wieder an die frische Luft. Einmal hat sie mich erwischt, wie ich gerade an zwei Erwachsenen hindurch in einen Film gehen wollte, der das Prädikat P 14 trug. Nun hole ich alles nach, was sie mir zuvor verweigert hat. An meiner Seite Peter, Ilse und Uwe. Wir sind alle filmbesessene Besucher. Das fängt schon bei der Werbung an. Wenn das erste Bild auf der Leinwand erscheint, sagt Ilse, das nehme ich. Der Friseur Haar bietet Dauerwelle und Lockenwelle an. Ich soll die zweite Werbung haben. Möbelhaus Thierfeld hat eine Lieferung mit Kleinmöbeln erhalten. Reiche Auswahl. Peter ist jetzt dran. Besuchen Sie mal wieder das Thälmann-Haus, freundliche Bedienung, schmackhaftes Essen, gepflegte Getränke, und flotte Musik. Es spielt die Kapelle Hugo Schult. Uns Uwe ist wie immer ein bescheidener Konsument. Weißkohl ist ja sooo gesund, liest er auf der Leinwand. Er wird bei seiner Mutter nur noch Gerichte mit Weißkohl bestellen.

      Kleine Pause. Das Stachelschwein erscheint. Ein Raunen im Saal. Hans-Joachim Hanisch und Axel, Triebel, Otto Stark und Inge Nass, Felicitas Ritsch und Ingeborg Krabbe machen sich lustig über die Zustände im fremden Land, über den Alltag bei uns, über komische Begebenheiten. Sie bringen uns zum Lachen. Eine gute Einstimmung für den Film. Doch zuvor noch Neues aus aller Welt, die DEFA-Wochenschau. Wir rutschen nervös auf unseren Sitzen umher. Peter flüstert, ob heute Elvis oder Bil Haley dabei ist. Bil Haley ist dabei. Gezeigt wird ein kurzer Ausschnitt von seinem letzten Konzert. Er soll die Auswüchse des Kapitalismus in unsere Köpfe hämmern. Stühle fliegen, Tische kippen um, ein Handgemenge unter den Besuchern entsteht. Und dazu die aufpeitschenden Rhythmen des neuen, wilden Tanzes. Wir trampeln mit den Füßen, sind mittendrin, für einen kurzen Moment stockt uns der Atem. Dann neue Bilder. Das Licht geht wieder an. Ein paar Takte Musik. Es wird schummrig. Der Hauptfilm läuft.

      Ich rutsche auf meinem Sessel hin und her. Da sitze ich nun vor der großen Leinwand, neben mir und vorder mir gibt es nicht mehr, ich bin gefangen im Zelluloid-Streifen. Er zieht mich mit sich fort, hin zur Leinwand, die immer näher zu kommen scheint. Ich kann meine Helden schon berühren, weile schließlich unter ihnen, bin eins geworden mit der zauberhaften Welt des Kinos. Ich vergesse Zeit und Raum, Elternhaus und Schule, den Sozialismus und die Ernteschlacht. Ich bin dem Alltag entschwunden, weile gerade in einem gottverdammten Nest unterhalb des Äquators. Überall Staub und Morast. Dazu das schwüle, ungesunde Klima, das den Einwohnern, überwiegend Indios und Neger, zu schaffen macht. Doch nicht nur ihnen,

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