Das Vermächtnis aus der Vergangenheit. Sabine von der Wellen
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Der Gedanke an ihn beunruhigt mich und lässt mein Herz schneller schlagen. Ich verdränge die Erinnerung an ihn und richte alles auf das Hier und Jetzt. Die Auskunft, dass gleich der Arzt kommt, erscheint mir wie eine Drohung. Ich mag keine Ärzte. Ich will auch nicht krank sein und schon gar nicht in einem Krankenhausbett liegen.
Marcel hält weiter meine Hand und ich schließe einfach wieder die Augen.
Er hatte mich aus dem Labor geholt und mir und Tim somit das Leben gerettet. Mir kommt der seltsame Gedanke, dass mir nie mehr etwas passieren wird, wenn er nur in meiner Nähe bleibt. Er hatte mich sogar in dem versteckten Labor gefunden …
„Carolin, wie geht es dir?“ Marcel streicht mit seiner freien Hand erneut meine Haare zurück. Ich spüre seine zittrigen Berührungen und auch in seiner Stimme schwingt Unsicherheit mit.
Ich behalte die Augen geschlossen und kann ihm nicht antworten. Ich weiß nicht, wie es mir geht. Ich bin froh, dass ich noch lebe. Aber wenn ich die Erinnerung an das zulasse, was mich hierhergebracht hat, dann fühle ich mich schrecklich. Also tue ich lieber so, als schlafe ich wieder. In meinem Kopf ist allerdings alles wach. Wieder sehe ich Julian vor mir, mit irrem Blick und dem Messer in der Hand. Und Tim, der sich an das Bett gefesselt kurz vor dem Zusammenbruch befand und von Julian angeschrien wurde.
Julian brauchte etwas von Tim. Er meinte damit den Alchemisten Kurt Gräbler wieder auferstehen lassen zu können und Tim wollte ihm nicht helfen. Daraufhin hielt Julian mir ein Messer an den Hals und ich trat ihm zwischen die Beine, worauf das Messer mir in den Hals schnitt. Julian war entsetzt, weil ich noch nicht sterben durfte und Tim war entsetzt, weil ich zu sterben drohte.
Was war das alles konfus! Wollte Julian uns wirklich töten? Ich will das nicht glauben. Das erscheint mir wie ein Albtraum, der bei Tageslicht betrachtet einen anderen Anschein erweckt.
Dann fielen plötzlich Männer in den Raum ein und warfen Julian auf den Boden, und Marcel war da und trug mich die Treppe hoch ins Freie. Oh, Mann! All diese Erinnerungen möchte ich lieber aus meinem Kopf verbannen. Aber sie drängen immer wieder hoch. Und mit ihnen die grausame Frage, ob Julian wirklich zu einem Mord bereit gewesen war.
Ich kann ein Zittern nicht unterdrücken. Julian … was ist mit ihm geschehen? Und Tim? Wo ist Tim und hat er alles überstanden?
Diesmal beschwöre ich die letzten Minuten meiner Erinnerung absichtlich herauf. Tim hat geschrien, dass Julian mir helfen soll. Also lebt er. Wir beiden haben scheinbar das Ganze überstanden. Aber wollte Julian uns wirklich etwas antun? Hatte er mir nicht nach dem Schnitt etwas umgebunden, das die Blutung stillen sollte?
Das ist ein tröstlicher Gedanke, den ich festzuhalten versuche. Julian ist doch mein Bruder und nur dieser Kurt Gräbler Scheiß hat ihn so werden lassen. Alles andere will ich jetzt nicht denken. Ich brauche etwas, was meine geschundene Seele beruhigt und sie an das Gute glauben lässt.
Denken strengt an. Ich spüre Marcels warmen Hände, die meine halten und höre seine dunkle Stimme flüsternd flehen: „Bitte, Carolin. Rede mit mir! Oder drück meine Hand! Bitte!“
Seine Stimme ist mir so vertraut, sowie die Wärme seiner Hände und sein Geruch. Ich erinnere mich an all das, weil es immer da war, wenn ich kurz aus meiner lethargischen Versunkenheit erwacht war. Aber ich kann nicht mit ihm reden und will auch nicht seine Hand drücken. Ich will lieber schlafen und mich noch ein wenig in tröstliches Vergessen fallen lassen.
Ich spüre auf unseren Händen erneut einen Druck, und das leichte Kitzeln von Haaren. Gerne würde ich die Augen öffnen und nachsehen, was Marcel macht. Aber das ist auch anstrengend. Ich höre seine murmelnde Stimme nur noch von weit weg und dann gar nichts mehr.
Als ich das nächste Mal aufwache, ist Marcel nicht da. Aber meine Eltern sitzen mit unendlich sorgenvoller Miene an meinem Bett. Auf jeder Seite hockt einer von ihnen und diesmal halten sie meine Hände.
Mir fällt es etwas leichter, die Augen zu öffnen und offen zu halten.
„Mama!“, hauche ich, ohne wirklich einen Ton herauszubekommen. Ich versuche es noch einmal und bringe ein deutlicheres „Mama“ über die Lippen.
Ihr schießen Tränen in die Augen, und sie streicht mir mit zittrigen Fingern über das Haar. „Meine arme Kleine. Was ist nur geschehen?“, fragt sie mit tränenerstickter Stimme und Papa drückt meine andere Hand und sieht genauso entsetzt und traurig aus. „Wir sind so schnell gekommen, wie wir konnten.“
Hinter meiner Mutter erscheint nun eine andere Person und ich erkenne an dem weißen Kittel und der strengen Miene, dass es einer der Ärzte ist. Er dirigiert meine Eltern, die nur widerwillig meine Hände loslassen wollen, vom Bett weg und spricht mit ihnen. Ich höre ihn erklären, dass die Schnittwunde nicht sehr tief gewesen ist, ich aber viel Blut verloren habe und mir zwei Bluttransfusionen gegeben wurden. Außerdem bekomme ich immer noch eine Infusion gegen Schmerzen und zur Stabilisierung des Kreislaufs. Der Schnitt musste gesäubert und genäht werden. Dazu der Schock. Das andere bekomme ich nicht mehr mit, weil in diesem Augenblick Marcel an der kleinen Gruppe vorbei zu meinem Bett kommt und sich auf meine Bettkante setzt, als hätte er sie gemietet.
Er ist mir mittlerweile ein vertrauter Anblick. Aber ich sehe verunsichert zu meinen Eltern. Die reagieren aber nicht und ich frage mich, ob sie ihn gar nicht gesehen haben.
Dann geht der Arzt wieder und beide treten hinter Marcel.
Der nimmt meine Hand, und ich hätte sie ihm, unter dem Blick meiner Eltern, gerne entzogen. Aber auch darauf reagieren sie nicht. Es scheint für sie zu der normalsten Sache der Welt zu gehören, dass Marcel an meinem Bett sitzt und meine Hand hält. Das irritiert mich.
„Hey, du bist ja wieder wach“, höre ich Marcel leise raunen und sehe ihn lächeln. Ich mag es, wenn er lächelt. „Endlich ist der Schlauch weg. Jetzt geht es dir bald besser.“ Er drückt meine Hand und zieht sie an seine Lippen, die ich heiß und weich auf meiner Haut spüre. „Mann, bin ich froh“, raunt er und küsst sie erneut.
Ich versuche sie ihm zu entziehen, von diesen Vertraulichkeiten aufgeschreckt. Aber er hält sie eisern fest.
Mein Vater stellt sich hinter Marcel und erklärt: „Ja, sie ist eben wieder aufgewacht. Der Arzt sagt, dass dies erst mal die letzte Infusion ist. Endlich haben sie die anderen Schläuche entfernt. Davon ist sie wohl wach geworden.“
Ich sehe meinen Vater an, und meine Mutter … und dann in Marcels graue Augen, der wieder meine Hand an seine Lippen hält.
Verdammt! Was macht der denn?
Aber weder mein Vater noch meine Mutter scheinen irritiert über seine Anwesenheit oder das zu sein, was er mit meiner Hand anstellt. Das verwirrt mich mehr als das Gerede von irgendwelchen Schläuchen.
Mein Vater klingt mitgenommen, als er mir erklärt: „Marcel hat die letzten zwei Tage an deinem Bett gesessen und auf dich aufgepasst. Wir haben ihm so viel zu verdanken. Wenn er nicht gewesen wäre …“ Weiter kommt er nicht. Seine Stimme schlägt um und er sieht schnell zur Seite, damit ich seine aufsteigenden Tränen nicht sehe.
Mama schluchzt auch auf und dreht sich weg.
Ein ungutes Gefühl beschleicht mich und verdrängt den Schrecken, dass ich zwei Tage völlig weggetreten war und Marcel vor meinen Eltern eine Vertrautheit an den Tag legt, die mich irritiert. Die Schnittstelle an meinem Hals scheint sich schmerzhaft zusammenzuziehen