Das Vermächtnis aus der Vergangenheit. Sabine von der Wellen
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Langsam kommt er zu meinem Bett zurück und setzt sich auf die äußerste Kante des Bettrandes, als wolle er jederzeit zur Flucht bereit sein. Sein Blick wirkt verdrossen und sein Gesichtsausdruck angespannt. Seine Hände krallen sich in die Bettdecke und ich bin mir nicht sicher, was nun folgen wird.
„Ich kann tun, was ich will, du …“ Er schüttelt resigniert den Kopf, wendet den Blick ab und sieht zu Boden.
Mir fällt es wie Schuppen von den Augen. Marcel rettet mir das Leben und verbringt jede freie Minute an meinem Krankenbett und ich zeige ihm keine Sekunde so etwas wie Dankbarkeit oder dass mir das etwas bedeutet. Als er mich aus dem Labor nach oben getragen hatte, sprach er sogar davon, dass er mich liebt. Und alles was vorher war … auch da hatte Marcel mir immer gezeigt, dass ich ihm etwas bedeute. Ich muss an die Nacht denken, als ich bei ihm Zuhause war, er sich stundenlang meine Geschichte anhörte, mich die halbe Nacht tröstend in seinen Armen hielt und wie er mich morgens an sich zog und küsste.
Ich sehe in sein trauriges Gesicht, das noch immer den Blick gesenkt hält, als hätte er Angst, zu viel von sich preiszugeben, wenn ich in seine Augen sehe.
„Ich kann dir nicht mal einen kleinen Kuss geben“, nuschelt er leise, als solle ich das eigentlich gar nicht hören und seine Stimme zittert leicht. „Und ich dachte, nach der Nacht bei mir …“ Er schließt die Augen und verzieht das Gesicht, als verspüre er einen stechenden Schmerz und dreht den Kopf zur Seite.
Mir fällt die Szene mit dem Kuss wieder ein, den er mir auf den Mund gehaucht hatte und der mir vor meinen Eltern so unendlich peinlich war. Dabei hatten sie das noch nicht einmal gesehen. Die waren viel zu beschäftigt mit sich selbst.
Mir fällt auch die weitere Reaktion von Marcel ein und mir wird klar, warum er die ganze Zeit so traurig dagesessen hatte. Er glaubt, dass er mir völlig egal ist und dass nichts, was er für mich tut, eine Bedeutung für mich hat.
Wenn mir eines in diesem Moment klar wird, dann, dass ich Marcel nicht nur viel zu verdanken habe und er mir zu einem Freund geworden ist, sondern dass ich ihn wirklich mag. Seine ganze Art berührt mich. Er ist so stark und beschützend und kann auch so schrecklich sensibel sein. Und ich bin mir bei ihm absolut sicher, dass er mir niemals wehtun wird. Aber leider ist es andersherum nicht so. Ich habe ihm bestimmt schon viel Leid zugefügt. Wie oft hatte ich ihn als Alibi benutzt, ihn nicht angerufen, wenn er darauf wartete, ihn auf sein Sofa verwiesen …
Ich setze mich ganz auf, was mir einen stechenden Schmerz an meiner Halswunde einbringt. Kurz greife ich an meinen Nacken und fühle dort ein dickes Paket, das dort aufgeklebt wurde. Das zu fühlen erschreckt und verunsichert mich kurz. Aber noch mehr verwirrt mich Marcels Gesichtsausdruck und die Art, wie er versucht mich nicht in sein Gesicht sehen zu lassen. Ich ignoriere das schreckliche Unbehagen, das der Verband an meinem Hals verursacht und lege meine Hand an seine Wange, darauf achtend, dass der letzte Infusionsschlauch sich nicht verheddert. Vorsichtig drehe ich seinen Kopf zu mir, was er nur widerwillig geschehen lässt und sehe in seinen Augenwinkeln Tränen aufblitzen.
Das erschüttert mich noch mehr. Was bringt ihn dermaßen aus der Fassung? Ich?
Marcel hat die Augen geschlossen und seine leichte Gegenwehr zeigt mir, dass er auf gar keinen Fall will, dass ich bei ihm Tränen sehe.
„Hey, Marcel!“, flüstere ich betroffen: „Es tut mir leid. Das war wegen meinen Eltern. Nicht wegen dir!“ Ich lege ihm meine andere Hand auf die andere Wange und ziehe ihn unschlüssig, was ich überhaupt will, zu mir heran.
Marcel hält die Augen weiter geschlossen und den Mund verdrossen zusammengepresst. Doch er lässt sich willig von meinen Händen dirigieren. Eine Träne macht sich selbstständig und läuft über seine Wange.
Das ist für mich unerträglich. Es kann doch nicht sein, dass Marcel weint. Das versetzt mir einen Stich und lässt meine Gefühle durcheinanderpurzeln.
Mir wird klar, wie sehr ihn das alles hier trifft, und dass mich seine Tränen so berühren zeigt mir, dass er mir nicht egal ist. Ich will nicht, dass er leidet. Mein Gott! Ich möchte, dass es ihm gut geht. Niemals hatte ich geahnt, dass er so leiden könnte, wenn ich ihm meine Gefühle vorenthalte, die sich bei seinem Anblick nun klar in meinem Inneren für ihn regen.
Ich ziehe ihn dicht zu mir und hauche ihm mit einem sachten Kuss die Träne weg. Ich sehe ihn an und warte auf seine Reaktion, die nicht kommt.
Ich gebe ihm einen Kuss auf die andere Wange.
Marcel hält einfach nur still. Er scheint sich noch nicht sicher zu sein, ob es bei freundschaftlichen Küssen auf die Wange bleibt oder was ich damit bezwecke.
Aber ich weiß, was ich tun muss. Das bin ich ihm schuldig … und ich will es auch.
Vorsichtig streiche ich ihm eine Strähne seiner blonden Haare aus dem Gesicht, ziehe ihn etwas näher an mich heran und küsse ihn auf den Mund, ganz sachte, wie ein Hauch - so wie er mich geküsst hatte.
Er reagiert immer noch nicht und ich flüstere: „Sei mir doch bitte nicht mehr böse. Du bist mir total wichtig. Glaub mir.“
Was soll ich ihm auch sonst sagen? Und ich fühle das auch so, was mich selbst nicht weniger überraschend trifft.
Erneut ziehe ich ihn näher und küsse ihn noch einmal. Ich will nicht, dass er mich jetzt hier im Regen stehen lässt. Er soll wenigstens irgendwie reagieren.
Seine Lippen öffnen sich und seine Hände schnellen vor, legen sich um mein Gesicht und halten mich fest, als hätte er Angst, ich könnte es mir wieder überlegen. Unsere Zungen berühren sich und ich fühle so etwas wie Erleichterung, dass er meine Bemühungen nicht mehr ignoriert. Aber der aufkommende Schmerz an meinem Hals lässt mich zusammenfahren und ihn von mir schieben. „Au, au…“, ächze ich und kneife die Augen zusammen.
„Oh, entschuldige!“, raunt er mit belegter Stimme. „Es tut mir leid. Ich wollte dir nicht wehtun.“ Er scheint wirklich entsetzt darüber zu sein, aber seine Augen funkeln hoffnungsvoll. „Aber ich …“
„Du kannst nichts dafür. Es war meine eigene Schuld“, antworte ich ihm schnell, weil ich ihn auf gar keinen Fall wieder so traurig sehen will und sein „Aber ich …“ lieber nicht hören möchte. Das ist mir dann doch zu viel.
Vorsichtig schiebt er sich etwas dichter an mich heran und legt seine Wange an meine. Seinen Arm schiebt er dabei vorsichtig um meine Schultern und hält mich umschlungen, als hätte er Angst, ich würde wieder unnahbar werden, wenn er mich loslässt. „Weißt du“, flüstert er mir ins Ohr: „wenn ich zu spät gekommen wäre und du das nicht überlebt hättest … ich hätte auch nicht mehr leben wollen.“
Erst ist mir nicht klar, was er meint. Zu sehr irritieren mich seine Worte. Und sie machen mich sprachlos. Seine Gefühle mir gegenüber machen mich sprachlos. Dass er so empfindet ist mehr, als ich geahnt hatte und mehr, als ich verkraften kann.
Ich spüre Panik in mir aufsteigen. Was soll ich darauf antworten?
Wir werden jäh unterbrochen, als die Tür aufgeht und eine Krankenschwester ins Zimmer tritt.
Marcel lässt mich los und sieht zur Tür.
„Da es Fräulein Maddisheim wieder bessergeht, denke ich, wir sollten anfangen auf Besuchszeiten zu achten, Herr Blum“, meint sie freundlich und sieht Marcel dabei an, der sich langsam aufsetzt und mich ins Kissen sinken lässt. „Außerdem sollten Sie auch mal richtig schlafen.“
„Aber