Die Schlangentrommel. Ole R. Börgdahl
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Читать онлайн книгу Die Schlangentrommel - Ole R. Börgdahl страница 4
Nhean beschleunigte. Die weiße Motorhaube des Pritschenwagens erzitterte. Links und rechts war die Farbe an den Kotflügeln abgeblättert. An einigen Stellen klafften faustgroße Rostlöcher. Die Stoßstange quittierte jedes kleine Schlagloch mit einem klappernden Geräusch. Nhean sah Arun im Rückspiegel. Das Motorrad beschleunigte, blieb aber hinter dem Heck des Pritschenwagens. Das Gelände wurde hügeliger, die Straße begann anzusteigen. Nhean quälte den Pritschenwagen. Sie erreichten das bewaldete Grenzgebiet zu Thailand. In den Kurven verdeckten dichte Nadelbäume die Sicht. Der weiße Hilux wurde langsamer. Der Pritschenwagen schloss auf. Nhean fuhr weiter. Dann bog der Hilux plötzlich auf eine Lichtung neben der Straße und stellte sich quer. Die linke Fondtür wurde aufgestoßen. Ein Mann sprang heraus, lief mit gezogener Pistole zur Straße zurück. Nhean bremste. Zwei Schüsse fielen, die Motorhaube des Pritschenwagens sackte vorne ein Stück ab. Das rechte Vorderrad war zerfetzt.
Arun erreichte in diesem Moment die Lichtung, bremste hinter dem Pritschenwagen. Der Schütze wandte sich um. Arun rief etwas zu den Männern auf der Pritsche. Ein M5-Strumgewehr flog durch die Luft. Arun fing es auf, entsicherte und gab sofort eine Salve ab. Der Mann mit der Pistole hatte bereits auf Arun angelegt, als zwei Kugeln sein linkes Bein trafen. Blut spritzte. Er ließ die Pistole fallen, sackte zu Boden. Weitere Kugeln aus dem Sturmgewehr sprengten die Heckscheibe des Toyotas, der mit durchdrehenden Hinterrädern wieder anfuhr. Der Wagen preschte auf eine Gruppe von Bäumen zu, das Lenkrad wurde eingeschlagen, der Hilux schleuderte zur Seite.
Dann geschah sekundenlang nichts. Der aufgewirbelte Staub begann sich zu legen. Arun lud das Sturmgewehr durch, stieg vom Motorrad und suchte Deckung hinter dem Pritschenwagen. Nhean sprang aus dem Führerhaus, lief auf der gedeckten Seite an der Plane entlang und öffnete die Beschläge. Die Männer sprangen heraus. Sie verschanzten sich mit ihren Waffen hinter der Motorhaube und dem Heck des Pritschenwagens. Nhean ging zurück zum Führerhaus. Arun gab den Feuerbefehl. Die Männer zielten auf die Bäume, jeder gab eine Gewehrsalve ab. Die Kugeln zerfetzten die Äste, rissen die Baumstämme auf. Rindenstücke, Kiefernnadeln und kleine Zweige regneten auf das Dach des Toyotas.
Nachdem die Schüsse verhallt waren, begann der Mann auf der Lichtung, zu schreien, als sei er erneut getroffen worden. Er versuchte zu seinem Wagen zu robben, hielt sich dabei sein Bein. Blut sickerte zwischen seinen Fingern hervor. Die Fahrertür des Toyotas öffnete sich langsam. Die Männer am Pritschenwagen luden ihre Sturmgewehre durch. Arun hielt die Hand hoch. Nhean legte an. Der Fahrer des Hilux streckte die Arme aus dem Türspalt. Arun wandte sich um, gab Zeichen an seine Leute. Zwei Männer lösten sich aus der Deckung des Pritschenwagens. Sie rannten über die Lichtung, die Gewehre im Anschlag. Einer blieb bei dem Verletzten stehen. Mit einem Tritt zwang er ihn, sich flach auf den Boden zu legen, durchsuchte ihn. Dann half er ihm auf, fesselte ihm mit einem Strick die Hände auf den Rücken und brachte ihn zum Pritschenwagen.
Der zweite Mann hatte den Toyota erreicht. Er riss die Fahrertür ganz auf, ergriff den Arm des Fahrers und zerrte ihn aus dem Sitz. Er stieß ihn um, drückte ihn mit dem Knie im Rücken auf den Boden, durchsuchte ihn und nahm ihm die Pistole ab, die im Holster des Hosengürtels steckte. Dann wurde der Fahrer wieder auf die Beine gezerrt und ebenfalls gefesselt und zum Pritschenwagen gebracht.
Arun beobachtete die Szene, die keine zwei Minuten gedauert hatte. Er wusste, dass es in dem weißen Toyota einen weiteren Passagier gab. Arun reckte sich etwas, legte die Hände trichterförmig vor den Mund.
»Angka!« Aruns Ruf hallte über die Lichtung.
»Aang-kaa!«, wiederholte er und dehnte dabei die Silben des Namens.
»Khmêr Khrôm! Khmers Rouges!«, schrie er schnell hintereinander. »Oder soll ich dich bei deinem Namen nennen, Rin Mura?«
Sekunden der Stille folgten. Arun holte wieder Luft. »Aang-kaa!«
Es kam ein leichter Ruck durch den Pickup. Die Beifahrertür wurde langsam geöffnet, eine Hand über das Wagendach gestreckt. Rin Mura stieg aus, ging langsam um die Motorhaube herum. Er hatte sein Gesicht noch abgewandt, drehte sich erst zu dem Pritschenwagen und den dort wartenden Männern um, als er den Toyota umrundet hatte. Er trug westliche Kleidung, eine khakifarbene Hose, ein weißes Hemd unter der braunen Jacke. Langsam streckte er die Hände weiter in die Höhe, drehte die Handflächen nach vorne. Arun wartete keine Sekunde mehr. Er griff sich sein Sturmgewehr und trat aus der Deckung. Er schritt schnell über die Lichtung und blieb ein paar Meter vor Rin Mura stehen, der jetzt den Kopf zu Boden gesenkt hatte.
Arun schluckte. »Angka!«, flüsterte er.
Rin Mura zeigte keine Reaktion.
»Ang-kaa!«, wiederholte Arun zischend.
Rin Mura schüttelte langsam den Kopf.
»Sieh mich an, Angka!«, schrie Arun. »Sieh mich an Khmers Rouges! Du bist doch einer der Brüder? Ich kenne ja sogar deinen Namen.« Arun zögerte, schluckte. Er hob seine Hand, die zitterte. »Ja, ich weiß, Ihr hattet keine Namen, Angka. Keine Namen, keine Verantwortung, aber deinen Namen kenne ich, Rin Mura. Du bist doch Rin Mura und du wirst dich verantworten.«
Rin Mura hielt den Kopf weiterhin gesenkt, gab kein Zeichen der Bestätigung.
Arun trat noch näher an ihn heran. »Khmers Rouges!«
Rin Mura schüttelte erneut den Kopf.
»Doch!« Arun riss das Sturmgewehr hoch. Es sah so aus, als wenn er sein Gegenüber mit dem Kolben treffen wollte, aber er hielt in der Bewegung inne.
Rin Mura wich einen Schritt zurück. »Kein Angka«, sagte er leise hielt dabei den Kopf immer noch gesenkt.
Arun trat zur Seite und hieb Rin Mura den Gewehrlauf von hinten in die Beine. Rin Mura knickte ein und landete mit schmerzverzerrtem Gesicht auf den Knien.
Darauf hatte Nhean gewartet. Er schulterte sofort sein Sturmgewehr, kletterte in das Führerhaus des Pritschenwagens und zog einen Baumwollsack hinter dem Fahrersitz hervor. Nhean lief damit über die Lichtung zu Arun und dem knienden Rin Mura. Aruns Gesichtsmuskeln waren angespannt, er zitterte leicht. Nhean hockte sich auf den Boden. Er ging in den Schneidersitz, öffnete den braunen Baumwollsack und holte eine Trommel heraus, die er vor sich hinstellte. Die geschlängelten Verzierungen auf dem gelben Holz glänzten in der Sonne. Das Trommelfell war stramm über die Öffnung gespannt und zeigte in seiner Mitte einen aufgemalten Schlangenkopf mit mandelförmigen Augen, einem weitaufgerissenen Maul mit zwei spitzen Zähnen und einer vorschnellenden, gespaltenen Zunge.
Nhean legte die rechte Hand auf das Trommelfell. Mit den Fingern begann er über die Bespannung zu streicheln. Dann folgte ein kurzer Schlag, der sofort wieder gedämpft wurde. Nhean wiederholte die Handbewegung, dreimal, viermal, fünfmal. Er wurde immer schneller, immer lauter, bis sich der Rhythmus herausgebildet hatte. Arun blickte weiterhin starr auf Rin Mura. Als die ersten heftigeren Trommelschläge zu hören waren, stöhnte Rin Mura auf.
Arun trug ein kurzes Futteral an seinem Gürtel. Wie in Zeitlupe wanderte seine rechte Hand zur Schnalle des Futterals. Er öffnete die Schlaufe, klappte die Lasche zurück. Ein kurzes, silbernes Griffstück ragte aus dem Futteral. Langsam umschloss seine rechte Hand den metallenen Griff, verharrte dort für Sekunden. Nhean begann noch schneller zu trommeln, der Rhythmus wurde wilder.
Arun wollte gerade die Hand aus dem Futteral ziehen, als der Militärjeep mit kreischendem Getriebe die Straße zur Lichtung hinaufraste.