Geschichten aus einem anderen Land. Joachim Gerlach

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Geschichten aus einem anderen Land - Joachim Gerlach

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den Bezirk errechneten, fand sich auch so bis auf geringe Abweichungen nach dem Komma in den Tageszeitungen am nächsten Tag wieder. Die in Holsteins Rechner einfließende Zahlen ergaben über alle Kreise und den Bezirk selbst nie weniger als 98,5 Prozent an Ja-Stimmen. Wieso und woher also der stete Verdacht auf Betrug und Fälschung? Holstein vergaß an diesem Abend die vielen Stimmen derjenigen, die im Vorfeld der Wahlen per Briefwahl oder Sonderwahllokal die Chance nutzten, dort ihren Unmut über das Regime und dessen Ablehnung kundzutun. Bei deren Stimmen-Auszählung blieb die Öffentlichkeit fern. Wo aber lag denn das Problem für die Partei- und Staatsführung, einmal zwanzig Prozent unter den angestrebten Hundert zu kassieren? Hätte das nicht auch gereicht? Hätte es nicht. Holstein wurde sich dessen erst viel später bewusst: Einmal in Fahrt gekommen, wäre die Sache nicht zu bremsen gewesen. Zur nächsten Wahl wären vierzig, fünfzig oder gar sechzig Prozent von Hundert abzuzählen gewesen.

      Der Herbst zog ins Land, die Wahlen zu den örtlichen Parteiorganen standen auch wieder an. Da gab es jede Menge Agitation in Rundfunk und Fernsehen, wenig aus dem großen Sowjetlande, dafür um so mehr aus dem eigenen Politbüro.

      Zur Wahlversammlung in Holsteins Parteiorganisation hörte er die gleichen Töne wie seit Jahr und Tag, Friede, Freude, Eierkuchen. Kein Wort von den Umbrüchen in Ungarn, in Polen, schon gar nicht von Glasnost und Pjerestroika. War die DDR über Nacht autark geworden, politisch, wirtschaftlich und überhaupt?

      Holstein, als Diskussionsredner mit dem vorgegebenen Thema „Nutzung der Errungenschaften von Wissenschaft und Technik in der Planungsbehörde“ aufgestellt, sprach nur ganz kurz zu seinen Arbeitsergebnissen. Jetzt, so setzte er nach, möchte er lieber zu einer Frage reden, die ihn mehr berührt und eigentlich auch viel eher Thema von Parteiberatungen sein sollte, als die stereotype Wiederkäuung von Arbeitsinhalten, die bekanntlicherweise ja eigentlich Angelegenheiten dienstlicher Natur seien. Es gänge ihn um den neuen Kurs in der Sowjetunion. Ihm scheine, dass das dortige Herangehen auch engsten Bezug zur Politik der SED haben sollte. Viele der im großen Saal Versammelten senkten die Köpfe, man sah es ihnen geradezu an, dass sie sich am liebsten angstvoll unter den Stuhlreihen verkriechen würden. Der als Gast anwesende Vertreter der SED-Bezirksleitung schaute bei Holsteins Worten immer finsterer, schließlich hielt er sich nicht mehr auf dem Stuhl.

      „Stopp! Was uns der Genosse Holstein hier darbietet, steht nicht im geringsten Zusammenhang mit unserer Politik, auch überhaupt nicht mit unserem heutigen thematischen Anliegen. Wenn die Führung der KPdSU der Meinung ist, sie müsse Korrekturen vornehmen, bitte, dann soll sie das tun. Wir sind dieser Meinung nicht. Der Sozialismus auf deutschem Boden entwickelt sich in den Farben der DDR, über seinen Fortgang entscheidet unsere auf der Grundlage wissenschaftlicher Führungstätigkeit arbeitende Parteiführung. Die übergroße Mehrheit der DDR-Bevölkerung steht geschlossen hinter der Politik unserer Parteiführung und stellt sich tagtäglich der Losung: Mein Arbeitsplatz – mein Kampfplatz für den Frieden!“ So fügte er, sein eigentliches Redekonzept zur Seite legend, mehrstündig Stein auf Stein. Holstein erhielt durch nicht einen einzigen der anderen Diskussionsredner Unterstützung und Beistand. Das verdross ihn nicht sonderlich, wusste er doch, dass seine Arbeitsstelle im Prinzip nichts anderes war als der verlängerte Arm der Partei. Er kannte die inoffizielle Meinung vieler seiner Kollegen, auch die vieler Genossen und wusste, dass sie sich untereinander trotz der permanenten Gefahr von Denunziationen freimütig zu den aktuellen Themen unterhielten und auch im wesentlichen seine Standpunkte teilten. Nur taten sie dies nicht offiziell in den Versammlungen. Offiziell beteten sie nach wie vor die alte Litanei herunter, die sie gewohnt waren zu beten, und die man so auch gerne hören wollte, zumal auf den mit viel rotem Fahnentuch ausgestatteten Großkampfveranstaltungen.

      Holstein zerrte an den Ketten, nicht gegen den Sozialismus sondern dafür. Weg mit den vom Klassenkampf verbrämten alten Zöpfen, raus mit der Ideologie, wo sie nichts zu suchen hat. Als im Folgejahr die Gewerkschaftswahlen ausgetragen wurden, forderte er die neu gewählte Leitung der Abteilungsgewerkschaftsorganisation dazu auf, sich endlich um ihre tatsächlichen Obliegenheiten ihrer Klientel zu kümmern. Nicht die Verteilung von Urlaubsplätzen sei die ihr zugewiesene Aufgabe, schon gar nicht der verlängerter Arm der Parteiorgane beziehungsweise der staatlichen Leitungen bei der Durchsetzung deren Beschlüsse und Anordnungen. Historisch gesehen hat Gewerkschaftsarbeit die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen zum Ziel, dessen gälte es sich zu erinnern. Gesenkte Köpfe, gebeugte Rücken, ganz zaghafter Beifall.

      In der anschließenden kleineren Runde nahm ihn sein Vorgesetzter zur Seite. Der war etwa im gleichen Alter, hatte gleichfalls bei der Marine gedient, allerdings nur ein halbes Jahr Reserve bei den rückwärtigen Einrichtungen. Wenn er jedoch von den schier unendlichen Abenteuern und Begebenheiten, traurigen, skurrilen schnurrigen, dieser seiner Dienstzeit erzählte, schien es, als wäre er der langjährig dort Dienende gewesen und Holstein der halbjährige Reservist.

      „Hör mal, Gert, sei bitte etwas vorsichtiger. Die Zeit ist noch nicht reif. Ich weiß es aus sicherer Quelle: die Auswechselung der politischen Spitze steht bevor, der Erste unserer Bezirksleitung wird wahrscheinlich zum neuen Führungskorps gehören. Auch der Dresdner. Wahrscheinlich wird Krenz der neue Parteichef. Wäre schade, wenn du dann nicht mehr dabei bist, denn du kennst es doch noch: einmal dabei – für immer dabei, einmal raus – für immer raus. Also, halte dich bereit, aber vorsichtig und diszipliniert. Jetzt machst du dich mit deinem Auftreten zum Sprecher auch solcher, die mit uns wenig oder gar nichts am Hut haben. Das kannst du beobachten, wenn du dich in Versammlungen zu Wort meldest. Die einen ziehen die Köpfe ein, die anderen frohlocken. Achtung, gleich gibt der Holstein wieder Saures!“

      Ein wirklich gutgemeinter Rat? Eine ehrliche Warnung? Oder eher eine auf Veranlassung der Leitung sanft umschriebene Drohung? Ein baldiger Wechsel an der Parteispitze? Alles undurchsichtig. Holstein machte weiter wie bisher und nahm kein Blatt mehr vor den Mund.

      Das neunundachtziger Jahr brach an, mit ihm gingen einschneidende Restriktionen im Lande daher: Die Vertrieb der beliebten, stets vergriffenen, zunehmend deutlicher mit den Erscheinungsformen des Stalinismus abrechnenden Sowjetzeitschrift „Sputnik“ wurde eingestellt, zahlreiche, selbst international preisgekrönte sowjetische Filme auf den Index gesetzt. Die Parteiführung leugnete weiterhin die offensichtlich notwendigen Parallelen zur sowjetischen Parteipolitik, das ZK-Mitglied Hager befand in aller Öffentlichkeit dazu: Wenn der Nachbar eben einmal gerade die Wohnung tapeziere, müsse man dies ja nicht auch gleich tun. Noch wenige Jahre zuvor wurde jeder noch so laue Pups, der von Osten heranwehte, mit allem Nachdruck und ohne jede Verzögerung kopiert.

      In der Bevölkerung aber wuchs rasant der Ausreisedruck in Richtung Westen. Je mehr und je durchsichtiger sich die Partei- und Staatsführung bemühte, Ruhe, Disziplin und Besonnenheit aufrechtzuerhalten, desto mehr schärften sich die politischen Sinne. Im Frühsommer formierten sich vor den ungarischen und tschechischen Botschaften Tausende von Ausreisewilligen. Holstein saß allabendlich vor dem Fernseher und verfolgte mit Entsetzen, wie junge Mütter und Väter ihre Kleinkinder und Säuglinge über die eisernen Botschaftszäune hoben, wie die in die Botschaften Entkommenen unter den extremsten Bedingungen dort über Wochen schon ausharrten, um in den Westen zu gelangen. Waren sie etwa schlecht gekleidet? Nein. Waren sie unterernährt? Auch nicht. Was also trieb sie dann zu solch waghalsigen, völlig unwägbaren Unternehmungen? Von denen nicht zu reden, die sich in lebensbedrohlicher Weise mit Schwimmhilfsmitteln über die Ostsee oder mit selbstgebauten Luftfahrzeugen über die grüne Grenze auf den Weg gen Westen machten? Wir müssen hier einen weiteren Irrtum Holsteins konstatieren, nämlich den, dass er zu diesem Zeitpunkt noch ernsthaft daran glaubte, dass viele der Flüchtlinge wegen fehlender demokratischer und freiheitlicher Grundrechte ihr Vaterland verließen. Heute, ein nahezu anderthalb Jahrzehnt später, ist er sich dessen sicher, dass Demokratie und Freiheit schlechthin leere Worthülsen sind, geeignet, ein einigermaßen prosperierendes Wirtschaftssystem darin einzubinden oder individuell-intellektuelles Denken zu befördern. Im Kern ihres Daseins orientieren sich die Menschen an ihrem Lebenssatndard, dies natürlich im Vergleich zu ihren unmittelbaren Nachbarn, demokratische Grundrechte hin, demokratische Grundrechte her. Wenn die Nachbarn dann zumal auch die Verwandten sind, wiegen die

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