Geschichten aus einem anderen Land. Joachim Gerlach

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Geschichten aus einem anderen Land - Joachim Gerlach

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jedoch, im Wendejahr 89, sah Holstein in der politischen Starrköpfigkeit der Partei- und Staatsführung die Hauptursachen des menschlichen Aderlasses, meinte die Massenflucht stoppen zu können mit konsequenten Kursänderungen nach russischem Beispiel. Wie gesagt, ein Irrtum. Genau wie die Erwartung, nach der Wende würden die sowjetische Zeitschrift „Sputnik“ und die ebenso der Zensur der politischen Führung anheimgefallenen sowjetischen Filme Hochkonjunktur haben. Weit gefehlt, es wollte sie dann angesichts der Schwemme bunter Blätter und Videobänder aus den Verlagen jenseits der Elbe plötzlich kaum jemand mehr sehen.

      Den Sommerurlaub verbrachten die Holsteins wie üblich wieder an der Ostsee. Dort schwammen aus nicht erklärten Gründen am Ufer Millionen toter Marienkäfer im Wasser herum, teilweise bedeckten sie ganze Strände. Holsteins Schwager bemerkte dazu bei einem Spaziergang: Sind gar keine Käfer, schau richtig hin Gert, alles weggeworfenen Parteiabzeichen. Und hatte noch einen weiteren parat:

      „Honecker kommt eines Abends vom Staatsbesuch zurück. Am Flugplatz gleißende Helle, aber kein Mensch zur Begrüßung. Auch die Hallen sind in helles Licht getaucht, jedoch auch hier keine Menschenseele, kein Empfangskomitee wie üblich, kein Angestellter, kein Taxi. Also macht er sich zu Fuß auf die Socken in den Regierungspalast, jedoch überall das gleiche Bild: viel Licht, kein Mensch zu sehen, so auch im Palast. Da schwant ihm Böses: der Klassenfeind! Auf zur Mauer! Auch dort aber nur sehr, sehr viel Licht, kein Mensch, keine Grenzer, kein Zoll, keine Stasi. Statt dessen ein großes Loch mitten in der Mauer. Erich hastet hinzu und entdeckt neben dem Loch einen Zettel, darauf steht in flüchtiger Schrift: Erich, mach das Licht aus, du bist der Letzte.“

      Des Volkes Worte. Wie schnell sie sich noch in diesem Jahr bewahrheiten würden, hätte Holstein nicht möglich gehalten.

      Der noch hochsommerliche September trieb unablässig weitere DDR-Bürger in die BRD-Botschaften der mit der DDR verbündeten Staaten und Holstein machte in der monatlichen Parteiversammlung offen Front gegen die dafür an den Haaren herbeigezogenen Begründungen in Presse, Funk und Fernsehen. Gleichermaßen stellte er die gebetsmühlenartig gepriesene Wirtschafts- und Sozialpolitik der Parteiführung hochgradig in Zweifel.

      „Was ist eine Wirtschaftspolitik wert, die gegen jegliche ökonomische Vernunft, ja selbst gegen von den Klassikern des Sozialismus formulierte ökonomische Gesetze verstößt? Was ist eine Sozialpolitik wert, die soziale Zuwendungen aus einer Streusandbüchse verteilt, unbesehen von tatsächlicher Bedürftigkeit? Was ist daran ökonomisch oder sozial, wenn man jahrelange Mietschuldner bei einem lächerlichen Mietbetrag von hundert, allerhöchstens hundertfünfzig Mark für eine geräumige Drei-Zimmer-Wohnung mit Balkon inklusive aller Heiz- und Nebenkosten ohne ernsthafte Konsequenzen gewähren läßt, sich statt dessen als Begründung ihrer Schuld noch die freche Aussage sonst fehlender Benzingelder für ihr Auto, in solchen Fällen zumeist kein Trabant sondern eher ein Wartburg oder Lada, bieten lässt? Wie lachhaft ist das Festhalten an Durchhalteparolen aller Art. Mein Arbeitsplatz – mein Kampfplatz für den Frieden. Wer von euch glaubt denn das wirklich, dass Lieschen Müller von solchem Gedankengut beseelt am frühen Morgen erst ihre Kinder zur Krippe bringt und dann vom genannten Motto hochgradig inspiriert mit Enthusiasmus bis spät abends an ihrer Kasse in der Kaufhalle Warenpreise eintippt, oder dass Mäxchen Pfiffig in einem fort an die Erhaltung des Weltfriedens denkend im Walzwerk den rotglühenden Stahl wendet? „

      Die Antwort vom anwesenden Sekretariatsmitglied der SED-Bezirksleitung erfolgte prompt, scharf und in persönliche Beleidigungen mündend. Holstein wies die Argumente als Beispiele der Entmündigung und der Arroganz zurück und stand hinfort seit genau diesem Tag wieder unter der direkten Beobachtung der SED-Bezirksleitung. Holsteins Parteisekretär kabelte wöchentlich, wenige Tage später sogar täglich, der zentralen Parteileitung über die Stimmungs- und Meinungslage Bericht, darin stets eingebunden der Sonderabschnitt „Holstein“, die zentrale Parteileitung telegrafierte darüber zu dem in Berlin mit anderen Genossen der Parteispitze den 40. Jahrestages der DDR vorbereitenden Ersten Sekretär. Der erinnerte sich nur äußerst ungern seines einstigen Mitarbeiters, der ihm nun erneut Ärger verschaffte. Ärgeren allerdings, viel ärgeren als damals. Da wäre er lieber wieder zu mitternächtlicher Stunde wegen eines Trunkenheitsdelikts aus dem Schlaf gerissen worden.

      Sie warfen Holstein in vereinter Front fehlenden Klassenstandpunkt vor, und der konnte es tags darauf im Organ des ZK der SED „Neues Deutschland“ nachlesen, was er unter diesem Klassenstandpunkt zu verstehen hatte:

      Es gilt, stand da zu lesen, dass sich die Mitglieder der Partei wieder intensiver mit den Beschlüssen des ZK befassen müssen, um die neuen Anforderungen richtig verstehen zu können und konsequent danach zu handeln. Revolutionärer Klassenstandpunkt bedeutet nichts anderes als fest und in unverbrüchlicher Treue zum ZK und seinem Politbüro zu stehen. Wer einmal der Partei sein Wort gegeben habe, tat dies auf Lebenszeit!

      Ja, so hätten sie es wohl gerne, und da glichen sie den Machthabern in aller Welt: blinde Ergebenheit und unverbrüchliche Treue!

      Holstein hatte in der Folgezeit eine schweren Stand in seiner Abteilung, nicht bei den Kollegen, abgesehen von denen, die ihm anonyme telefonische Anrufe bedrohlichen Inhalts zuteil werden ließen, wohl aber bei seinem neuen Leiter. Den bisherigen hatte man auf eigenen Wunsch, möglicherweise spielte dabei auch dessen Hang zum Alkohol und zu verheirateten Frauen eine nicht unbeträchtliche Rolle, in eine ihm besser gelegene Funktion außerhalb des Staatsapparates versetzt, der neue, Genosse Setzer, übte bis dahin das Amt des Ratsvorsitzenden eines Kreises im Erzgebirge aus. Als seine erste und vordringlichste Aufgabe im neuen Amt sah er es offenbar an, Holstein ideologisch wieder auf Vordermann zu bringen. So bestellte er ihn zu sich und überlud ihn dann sogleich stundenlang mit den Vorzügen des Sozialismus, dass Holstein die Ohren sausten und der Kopf schmerzte.

      Wenn nur ein Viertel, so Setzer, aller Parteimitglieder die Parteipolitik tagtäglich mit allerhöchstem Eifer in ihrer Arbeit umgesetzt hätte, wäre der derzeitig desolate Zustand in der DDR sicher zu vermeiden gewesen. Auch wäre eine gewisse Unmäßigkeit in den Forderungen der Bürger festzustellen, ein Beispiel nur: Als Ratsvorsitzender habe er mit unzähligen Eingaben in Fragen Wohnraumversorgung zu tun gehabt. Einer siebenköpfigen Familie habe er dazu verholfen, außer der Reihe aus ihrer dem Zusammenbruch geweihten Altbausubstanz aus der Zeit des mittelalterlichen Silberbergbaus in eine Neubauwohnung umziehen zu können, mit Bad, Innentoilette, vier Zimmern, einer geräumigen Küche. Aber anstelle des erwarteten Dankschreibens wäre ihm zwei Wochen nach dem Einzug von dieser Familie die nächste Eingabe auf seinen Tisch geflattert: Es gibt keine Einkaufsmöglichkeiten in der Nähe der Wohnung, auch keine Gaststätte. Ja zum Kuckuck, wo leben wir denn? Etwa schon im Schlaraffenland? Unmäßig, völlig unmäßig!

      Der 40.Jahrestag der Gründung der DDR stand ins Haus. Wie seit Jahrzehnten gewohnt mit der obligatorischen Militärparade und dem abendlichen Fackelzug der aus allen Teilen der Republik herangekarrten Jugendlichen in den blauen Hemden und Blusen der FDJ, in hohem Grade erinnernd an die Aufmärsche der Heiligen Inquisition, des Ku Klux Klan und der Nazis. Parallel dazu die Bekundungen der Andersdenkenden, mehrheitlich noch formiert unter Rosa Luxemburgs Freiheitsanspruch. Erwartungsgemäß kam es zu Auseinandersetzungen mit den Sicherheitsorganen, so auch an diesem Tag in Leipzig und anderen Städten, so auch in Holsteins Heimatstadt. Noch allerdings war die Zahl der öffentlich Aufmüpfigen klein, unüberhörbar zwar, aber doch bescheiden. Für den nachfolgenden Montag hatte das Neue Forum in Leipzig zu einer Massendemonstration aufgerufen. Polizei und Armee standen in Bereitschaft, es drohte der offene Konflikt, ein Bürgerkrieg. Trotz seiner unbegrenzten Sympathie mit den Demonstranten und ihren Forderungen konnte sich Holstein nicht dazu entschließen, sich selbst an den Demonstrationen zu beteiligen. Nicht aus Angst, nein, Holstein umging Massenaufläufe welcher Art auch immer, außerdem hoffte er darauf, dass die Parteigenossen der Basis sich endlich an die Spitze stellen und die Wende herbeiführen würden. Doch die Genossen der Basis waren entweder gelähmt oder marschierten selbst schon in den Demonstrationen des Neuen Forums. Tausende Parteimitglieder hatten ihr Mitgliedsbuch bereits zurückgegeben, die Marienkäfer am Ostseestrand

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