Geschichten aus einem anderen Land. Joachim Gerlach
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Holstein glaubte, mit der Demonstration hätte die Herbstrevolution ihren Höhepunkt erreicht, der Ministerrat wird zurücktreten und den Weg freimachen für Neuwahlen. Das Volk trug den Sieg davon. Eine Revolution auf höchster Kulturstufe, würdig eines Goethes und Hegels.
Auf der Heimfahrt im Trabi atmete sich die Luft irgendwie leichter und freier als bei der Herfahrt, sie schauen auch nicht mehr in den Rückspiegel, jedenfalls nicht aus dem Grund, Verfolger oder Beobachter zu erspähen.
Sonntag, 5. November 1989
Gleich morgens befestigte Holstein das Transparent, welches er mit Bernd zur Demo in Berlin vor sich her trug, am Balkon seiner Wohnung, dann begab er sich mit Daniela zur Mensa der Technischen Universität, dort sollte im Beisein des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes, seines obersten Dienstherrn also, und des Oberbürgermeisters der Stadt eine Diskussionsrunde zu kommunal-politischen Themen stattfinden. In Holstein verstärkte sich zunehmend der Verdacht, dass die an der politischen Führung des Landes Beteiligten versuchten, von den wirklichen Problemen abzulenken und der allgemeinen Spannung im Volk durch Verlagerung der Debatten auf sekundäre Ebenen die Brisanz zu nehmen. In der Mensa seiner einstigen Uni waren weit über tausend Menschen eng aneinander gedrängt versammelt, unzählige standen im Treppenhaus und noch draußen vor der Tür.
Sofort nach Eröffnung der Diskussion ergriff Holstein als erster Diskussionsredner das Mikrophon. Es galt zu verhindern, dass die Thematik von den derzeitigen gesellschaftlichen Hauptfragen, allem voran der der Machtausübung, auf Nebengleise geschoben wird. Nicht kommunale Angelegenheiten waren hier und heute aufzuwerfen sondern Grundüberlegungen zur Demokratisierung und Erneuerung der DDR, so lautete, nachdem sich Holstein vorgestellt hatte, sein erster Satz. Er bekannte sich zur vieljährigen Mitgliedschaft in der SED und zu seinen sozialistischen Idealen, schilderte seine Eindrücke von der gestrigen Demonstration in Berlin, sprach der Arbeiterklasse und der sie angeblich führenden Partei das Recht auf das Machtmonopol ab und forderte einen Volksentscheid zur Verfassung.
„Ja,“ sagte er abschließend, „ich bin Kommunist und werde es auch bleiben. Eben deshalb stehe ich ein für einen demokratischen Sozialismus, nicht für einen Kasernenhofsozialismus preußischer Prägung. Farbenfroh soll mein Sozialismus sein wie die gestrige Demonstration in der Hauptstadt. Inmitten der bunten Farbtupfer aber will ich auch meine rote Fahne nicht vermissen, gleichberechtigt neben den vielen anderen.“ Tosender Beifall.
Nach ihm sprachen noch viele, emotionell erregt die meisten, teilweise auch unsachlich, alle aber von sozialistischem Gedankengut geprägt. Beim Beitrag des letzten Redners, die Uhr zeigte bereits weit nach Mittag, lief Holstein ein eisiger Schauer über den Rücken. Der Redner lehnte sich ganz offensichtlich an seinen, Holsteins, Beitrag an. Weltanschauung sei wie Religion eine Sache des Individuums, ganz egal ob blau, rot oder gelb. Worum es wirklich gehe, das wäre die Errichtung eines modernen Wirtschafts- und Finanzsystems nach den Maßstäben Westeuropas und Amerikas. Welche Farben darin aufträten, sei völlig unbedeutend, wesentlich allein sei die wirtschaftliche Effizienz im Gegensatz zur Mangelwirtschaft des momentan betriebenen Staatssozialismus.
Der Inhalt dieser Rede zielte unter dem Strich klar und unmissverständlich auf nichts anderes als auf die Restauration des Kapitalismus in der DDR, das aber war nicht Holsteins Ziel und auch nicht das der meisten Mitglieder des Neuen Forums, die er kennengelernt hatte. Holsteins Ziel war und blieb eine Gesellschaft welche in ihrer politischen und ökonomischen Substanz die optimale Erzeugung und Verteilung von Gebrauchswerten vor den Tanz ums Goldene Kalb, die Chance auf ein existenziell gesichertes, in Übereinstimmung mit den natürlichen Ressourcen die Bedürfnisse der Menschen immer besser befriedigendes, langfristig plan- und berechenbares Leben für Millionen vor die Chance des Individuums auf den Erwerb von Millionen, Kontinuität und Stabilität der Lebensverhältnisse aller vor den Milliardenerfolg weniger, eine humanistisch-ästhetische Bildung und Erziehung vor die merkantile Nutzbarmachung menschlicher Urtriebe und Instinkte setzte
Am Abend erscheinen bei ihm zu Hause sein Abteilungsleiter und der Parteisekretär seiner Grundorganisation. Sie verlangen von ihm die Entfernung des am Balkon befestigten Transparentes. Dieses Ansinnen aber lehnte Holstein strikt ab.
Manchmal wurde ihm auch grundübel, dann hatte er Angst, höllische Angst. Sie überkam ihn wellenartig bei Tag und vor allem in der Nacht. Sie würgte ihn, presste ihm den Brustkorb zusammen, nahm ihm die Luft. Was, wenn sich die Dinge plötzlich wieder wendeten? Wenn es den dogmatischen Kräften wider Erwarten doch gelänge, erneut Oberwasser zu erlangen? Dann stecken sie ihn wegen des Versuchs zum Hochverrat und Volksverhetzung in den Knast oder wenigstens als Hilfsarbeiter in irgendeine Bude zur Flaschenreinigung oder in die Tierkörperverwertung oder ähnliches. Mit einem Schonplatz im Bereich Konsumgüter wäre dann nicht mehr zu rechnen. Dann wäre es auch aus mit der wissenschaftlichen Laufbahn des Sohnes. Dann wird es auch nichts mit Marias Abitur, dann bleibt auch Daniela nicht ungeschoren. Dann machen sie reinen Tisch. Dann stellen sie Einheit, Reinheit und Geschlossenheit wieder her und zwar mit all ihrer Tatkraft.
Montag, 6. November 1989
Holstein wurde gleich morgens nach Dienstantritt zum Leiter des Fachorgans gerufen. Neben ihm haben an der großen Beratungstafel sein Stellvertreter und der Parteisekretär Platz genommen. Es ging um das Transparent am Balkon seiner Wohnung und um seinen Auftritt in der Mensa der Uni am gestrigen Sonntag. Sie kamen allerdings auf keinen gemeinsamen Nenner, Holsteins Tragbarkeit als Mitarbeiter des Staatsapparates wird in Abrede gestellt, auch wenn er darin nur technischer, kein politischer Angestellter ist. Bei allem Hin und Her des Disputs einte sie lediglich noch der Begriff „Sozialismus“. Holsteins Entlassung aus dem Dienstverhältnis im Staatsapparat schien am Ende eine beschlossene Sache zu sein. Nur überrollten die Ereignisse die Entscheidungsträger.
Nach dem unblutigen Verlauf der Berliner Demonstration am vergangenen Samstag erwartete Holstein für den Abend, dass nun auch in seiner Stadt die montägliche Willenskundgebung sich erheblich verstärken wird. So war es auch. Trotz Kälte und strömenden Eisregens waren Hunderttausende in mehreren Marschblöcken unterwegs. Der Straßenverkehr in der Innenstadt kam zum vollständigen Erliegen. Die Demonstranten setzten sich in mehreren Richtungen in Bewegung, sie durchfluteten die gesamte Innenstadt. Die Menschenmasse, dicht bei dicht, quoll durch die Straßen, es gab kein Zurück, kein Ausweichen, nur vorwärts, vorwärts, dem Monument von Karl Marx entgegen. Dort war eine Rednertribüne errichtet worden. Massive Sprechchöre wanden sich gegen den Führungsanspruch der SED, forderten einen Volksentscheid zur Verfassung, verlangten die sofortige Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit. Und immer wieder erklang im von Herbststürmen gepeitschten kalten Regen der alle vereinende Ruf „Wir sind das Volk!“. Rufe nach dem Ersten Sekretär der Bezirksleitung wurden laut, der erschien auch, Ordner des Neuen Forum um ihn herum zu seinem Schutz vor Übergriffen der erregten Masse. Der Mann war sichtbar um Jahre gealtert, verloren seine sonst so sichere Redeführung, stockend versuchte er sich zu artikulieren und Argumente aufzubauen, umsonst. Er wurde immerzu unterbrochen: „Wir wollen keine Lügen mehr!“, „Zu spät, zu spät!“, „Vierzig Jahre DDR sind genug!“. Pfiffe und Buh-Rufe verhinderten den Fortgang seiner Rede, andere Redner betraten das Podium. Demokratie jetzt, Vereinigte Linke und wie sie alle heißen, die breite Palette der politischen Strömungen stellte sich dar. Obgleich Holstein letzten Endes unter der Leitung des Ersten Sekretärs während seiner Tätigkeit in der SED-Bezirksleitung die bisher mit Abstand schlimmste Phase seines Berufslebens durchgemacht hatte, tat ihm der Erste jetzt leid. Auch auf dem Alexanderplatz hatte Holstein am vierten November Pfiffe und Buh-Rufe gehört, viele bei Schabowski, weniger bei Markus Wolf, nie aber in der Form, dass wie er heute erstmals erlebte eine Argumentation gänzlich verhindert wurde. Das widersprach seinen Vorstellungen von einem sachlichen Disput, wie auch immer sich manche der jetzt derart überzogen Rebellierenden durch die bisherigen Machtausübenden behandelt fühlen mochten.
Auch mehrten sich die Anzeichen dafür, dass die Bürgerbewegung zur Demokratisierung und wirtschaftlichen Konsolidierung der DDR abglitt in das Bestreben nach