Geschichten aus einem anderen Land. Joachim Gerlach

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Geschichten aus einem anderen Land - Joachim Gerlach

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klar, es würde in Richtung Anschluss an die alte BRD keine Alternative mehr geben. Entschieden hatte das Volk der DDR, der Souverän, so wie auch er es seit dem stürmischen Herbst des vergangenen Jahres nachhaltig forderte. Das nun vom Volk in freier Entscheidung erbrachte Wahlergebnis, wie immer auch stimuliert und beeinflusst, musste und würde er akzeptieren, so schlimm ihm diese Wahl-Entscheidung auch aufstieß. Jetzt war ihm klar, es würde keine Demokratisierung und wirtschaftliche Konsolidierung der DDR mehr geben. Nach Lage der Dinge würde es die DDR, sein Vaterland, für welches er drei Jahrzehnte gearbeitet, gestritten und gekämpft hatte, schon bald selbst überhaupt nicht mehr geben. Die zahllosen und namenlosen Opfer, die freiwillig getragenen Entbehrung der vielen selbstlos und ehrlich am Menscheitsexperiment Sozialismus Mitwirkenden würden versanden und zeitweilig in Vergessenheit geraden, das Ideal aber wird bleiben. Seit Menschen Geschichte schreiben hat es den Kampf gegeben zwischen den unzähligen und ohnmächtigen Nichtprivilegierten einerseits und den wenigen Privilegierten und ihren Machtorgane auf der anderen Seite. Es wird ihn immer geben, diesen Kampf, den Marx den Kampf der Klassen nennt. In seinen zukünftigen Formen aber werden auch die Erfahrungen und Lehren aus dem ein Drittel der Weltbevölkerung umfassenden Versuch zur Errichtung einer gerechteren Menschenordnung Eingang finden, so kläglich der Versuch am Ende auch scheiterte.

      Bereits vor dem Anschluss an die Alt-BRD wurde das Land mit Hasardeuren und Bauernfängern aller Couleur, die in lila oder kleinkarierte Jackets gewandet als Versicherungsvertreter, Finanzdienstleister und anderweitig dubiose Berater daherkamen, überschwemmt, welche die auf diesem Terrain bislang völlig unbeleckten und untrainierten Neubundesbürgern über den Tisch zogen, dass es nur so seine Art hatte, und Holstein überkam ein Gefühl des ohnmächtigen Ekels.

      Mit Entsetzen sah Holstein die Bilder, da hochdekorierte NVA-Jagdpiloten, die Ritterkreuzträger der NVA gewissermaßen, ihre MIG-29 auf Flugplätze um Frankfurt am Main und anderswo überführten. Jahre später las er davon, dass eine Besatzung nur aus Offizieren bestehend das modernste Raketenschiff der Volksmarine aus seinem, Holsteins, ehemaligen Standort Dranske über den Atlantik den US-Streitkräften zuführte. Nein, Holstein hatte nicht den Stolz der Truppe aus den Tagen von Scapa Flow erwartet, aber auch nicht demütige Anbiederungen solcher Art.

      In der Folgezeit traf er mehrfach in betrieblichen Lehrgängen auf Wissens- und Erkenntnisträger des Altbundeslandes, deren Erkenntnisse, so jedenfalls es den deutschen Osten betraf, mit einem Radius gleich Null zirkulierten, die sich dennoch unbedacht ihrer schlimmen und ganz offensichtlichen Wissenslücken mit einem nicht zu übertreffenden Selbstwertverständnis unverblümt, überheblich und arrogant anmaßten, den aus freier Wahl Angeschlossenen nicht nur Buchhaltung und Kollektivgeist, welch letzteren sie als die wirklichen Deutschen Teamgeist nannten, zu lehren und zu predigen sondern darüber hinaus sogar die Fähigkeiten der Neubundesbürger in Sachen Autofahren, Gebrauch von Messer und Gabel und anderer Zivilisationsgüter als hochgradig entwicklungs- und ausbildungsbedürftig ansahen und dies ihre Zuhörerschaft auch deutlich spüren ließen. Das Wort vom „Besser-Wessi“ machte so Furore und schnell die Runde in ostdeutschen Landen, und Holstein erinnerte sich der Worte Theodor Storms, geschrieben im Jahr 1867, drei Jahre nach dem Preußisch-Dänischen Krieg: Wir können nicht verkennen, dass wir unter Gewalt leben. Das ist desto einschneidender, da sie von denen ausgeht, die wir gegen die vorherige Gewalt zu Hilfe riefen und die uns jetzt, nachdem sie jene zu bewältigen geholfen, wie einen besiegten Stamm behandeln, indem sie die wichtigen Einrichtungen, ohne uns zu fragen, hier über den Haufen werfen und andere dafür oktroyieren.

      Und Holstein hörte die ob ihrer Ahnungslosigkeit wegen Geneppten, ob ihrer scheinbaren Bedürftigkeit wegen Bloßgestellten und ob ihrer Überflüssigkeit wegen Arbeitslosen sich gegenseitig mit Bitterkeit befragen: Was ist der Unterschied zwischen Russen und Wessis? - Die Russen sind wir wieder losgeworden. Ja was, um Himmels Willen, hatten sie denn erwartet, die da nach dem Mauerfall in Sprechchören zu Hunderttausenden nach Deutschland einig Vaterland riefen? Brüderliche Hilfe und Unterstützung von denen, die sich mehrheitlich der Gnade des Geburts- oder Wohnortes halber schon immer auf dem eigentlichen, dem eben besseren deutschen Weg wussten? Herbeischaffung moderner Arbeitsplätze anstelle maroder DDR-Betriebe durch diejenigen, die infolge des exponentiellen Rationalisierungsschubs der Siebziger und Achtziger bis auf wenige Ausnahmen über industrielle Kapazitätsüberhänge in Größenordnungen verfügten, Kapazitätsüberhänge, die ausreichten und geradezu darauf warteten, den Bedürftigkeitsgrad der Neubundesbürger abzudecken?

      Daniela, Holsteins Ehefrau, gehörte zu den vielen, die schon anfangs der neunziger Jahres aus ihren bisherigen Arbeitsverhältnissen ausgegliedert wurden. Jedoch fand sie beizeiten eine Anstellung, die ihr, wenn auch heute längst in völlig anderer Form, alsbald die Rolle des die Familie wirtschaftlich stabilisierenden Faktors zuschrieb. Ein großes Versicherungsunternehmen nahm sich ihrer Bewerbung wohlwollend an und stellte sie unbesehen ihres Diploms vorerst als Schreibkraft ein. Dank der ihr eigenen Eigenschaften überstand Daniela nicht nur die in den Folgejahren einsetzenden Umstrukturierungsmaßnahmen und Entlassungswellen im Unternehmen sondern erklomm fachlich und funktionell sogar, dies sehr zum Wohle des familiären Finanzhaushaltes, eine pekuniär recht gut ausgestattete Position.

      Die mathematisch-naturwissenschaftlich Spezialschule, in welcher Holsteins Sohn Sven mit ausgezeichneten Abschlüssen sein Abitur ablegte, verlor nach der Wende nahezu gänzlich ihre bisherige Bedeutung. Eine gebotene Möglichkeit der Studienaufnahme mittels Sonderstipendium einer bundesweit agierenden Stiftung, angedacht von seiner bisherigen Lehrerschaft und von dieser bei der Stiftung beantragt, konnte Sven nicht ausschöpfen, da er, der sehr kühle, sehr nachdenkliche Kaumredner in den Augen der Bewerter den Anforderungen und Erwartungen im Kreis der vielen, viel besser als er rhetorisch und erscheinungsmäßig gestylten Mitbewerber im Rahmen der Assesmentveranstaltung in keiner Weise entsprach. So studierte Sven nach zehnmonatiger Militärzeit in der Bundeswehr, die sich gegenüber dem Militärdienst seines Vaters eher wie ein Sanatoriumsaufenthalt ausnahm, wie vorgesehen Informatik. Da er nunmehr sein Studium in eigener Regie organisierte, nicht wie einst geplant von staatlicher Fürsorge begleitet, nahm die Studienzeit nicht zehn sondern siebzehn Semester in Anspruch, was naturgemäß auf den Haushaltsetat seiner Eltern nicht unerhebliche Auswirkungen hatte. Sven arbeitet heute, nach dem Platzen der Hich-Tech-Euphorie, als Systementwickler einem Werk bei Frankfurt, Frankfurt am Main versteht sich. Keiner seiner ehemaligen Mitschüler der Spezialschule, die mathematisch-naturwissenschaftliche Elite seines Jahrgangs in der Stadt, beschritt den einstmals vorgedachten beruflichen Weg, einer arbeitet als Streetworker, einer als Diskjockey, einer als Versicherungsvertreter, zwei sind seit langem arbeitslose Sozialhilfeempfänger.

      Maria, Holsteins eher zu den angenehmen Dingen des Lebens tendierende Tochter, legte trotz ziemlicher Bedenken und allerhöchster mathematischer Unterstützung Holsteins ein überdurchschnittlich gutes Abitur ab. Exakt in der Schule, in der Holstein dies sechsundzwanzig Jahre vorher tat. Sie studierte anschließend sieben Jahre Jura, legte mit Bravour das erste und danach das zweite Staatsexamen ab, war danach zwei Jahre auf Jobsuche und arbeitet heute als selbständige Anwältin im Sächsischen.

      Holstein selbst verblieb noch bis 1992 im neu geschaffenen Regierungspräsidium. Im Frühjahr dieses Jahres, sich schon auf der sicheren Seite wähnend, erfolgte seine fristlose Entlassung aus dem öffentlichen Dienst wegen einstiger inoffiziellen Tätigkeit für das Ministerium für Staatssicherheit der DDR. Der ihm die Entlassung Aussprechende war das ehemalige Mitglied der SED-Hochschulparteileitung Zweiniger, zuständig damals für Agitation und Propaganda, und jetziger Abteilungsleiter des Bereiches „Wirtschaft“ im Regierungspräsidium, der Holstein zu Studienzeiten einmal mangelndes politisches Bewusstsein vorwarf. Jetzt allerdings auch gewendet als CDU-Mitglied.

      Gert Holstein durchlief die Tretmühlen des kapitalistischen Systems bis zur Neige. Nach Jahren der Arbeitslosigkeit, Fortbildung, Kurzbeschäftigungen, Arbeitsbeschaffungs-maßnahmen und einer sehr schnell wieder aufgegebenen Selbständigkeit gelang es ihm erst zu Beginn des Jahres 1997 wieder, nachhaltig beruflich Fuß zu fassen. Für die nächsten neun Jahre war er als EDV-Techniker und –Ausbilder in zwei bundesweit agierenden Firmen tätig. So lernte er im Schnelldurchlauf kennen, was ihm die berühmt-berüchtigten

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