Geschichten aus einem anderen Land. Joachim Gerlach
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Geschichten aus einem anderen Land - Joachim Gerlach страница 11
Noch vor dem Parteitag aber trat Holstein am 4. Dezember 1989 aus der SED aus, nachdem er die dort gerade aufgenommene Funktion niedergelegt hatte. Er tat dies angesichts der immer offener zu Tage tretenden drastischen Verfehlungen, ja Verbrechen der bisherigen Parteiführung. Mit diesem Parteisystem wollte er nichts mehr gemein haben, schon gar nicht den über und über besudelten Namen.
Der mit all seiner Inkonsequenz im Dezember 89 durchgeführte Parteitag der SED rechtfertigte Holsteins Entschluss. Immer wieder auf die drohende Spaltung der Partei verweisend - die inhaltlich längst vollzogen war - ließ der Parteitag mit seinen Ergebnissen auch den hartgesottenen Stalinisten und ihren Helfershelfern die Möglichkeit des Verbleibs in den Reihen der SED-PDS. Damit blieben die personifizierten Wurzel des Stalinismus erhalten, die Chance für eine wirkliche Erneuerung war vertan.
Genosse Paulig, Holsteins eifernder Widerpart, trat kurz nach Holstein aus der Partei aus und gehörte zu den ersten Mitgliedern des Beamtenbundes in der neu gebildeten Behörde.
Setzer, Holsteins neuer Abteilungsleiter kurz vor der Wende, avancierte bis zum Anschluss an die BRD zum Leiter der örtlichen Niederlassung der Treuhandgesellschaft. Heute führt er kleines Unternehmen, worin er sich mit der Archivierung von Unternehmensunterlagen seine Brötchen verdient.
Schilling, ehemals Leiter des Reservistenkollektives und Stimulator der Beifallsbekundungen zum Ersten Mai, fiel mit Beginn der Umstrukturierung wie die meisten der über eintausendfünfhundert Beschäftigten in die Warteschleife und wurde nicht wieder in die Belegschaft der nun neu gebildeten Behörde übernommen. Er machte sich mit einem kleinen Unternehmen, welches sich dem Verkauf von Büromitteln und Telefonanlagen verschrieb, selbstständig. Die allgemein erbärmliche Ertragslage des Unternehmens, verbunden mit massiven Zahlungsausständen seiner Kundschaft, veranlasste ihn in der Mitte der neunziger Jahre alle seine für die Rente hinterlegten Ersparnisse aufzubrauchen und die Krankenversicherung zu kündigen. 1999 gab er, nachdem er schon seit Monaten weder die Miete für seine Wohnung noch für das kleine Büro mehr bezahlen konnte, ihm sämtliche Konten wegen immenser Überziehungen gesperrt waren, das Unternehmen auf und meldete sich beim Sozialamt. Schilling ist noch heute Mitglied der Linken.
Für die Kollegin Dimitreos, die im herbeigesehnten Kommunismus aus normalen Hausbewohnern freiwillige Reparaturbrigaden rekrutieren wollte, brach mit der Wende eine ganze Welt zusammen. Bald wurde sie auch entlassen und dem sich zunehmend rasch mausernden Heer der Arbeitslosen im Osten Deutschlands zugestellt. Holstein traf sie Jahre später, da arbeitete sie ehrenamtlich für eine kirchliche Hilfsorganisation und wollte sogleich mit allem Eifer auch Holstein dafür gewinnen.
Genosse Wunderlich, der sich einst neben Holstein um den raschen Einsatz Computers verdient machte, verblieb im aus der alten DDR-Behörde hervorgegangenen Regierungspräsidium. Hier erklomm er mit Intelligenz und ideenreicher Anpassung stetig Stufe für Stufe. Zur Volkskammerwahl im März 1990, zu diesem Zeitpunkt noch Mitglied der PDS, wählte Wunderlich die CDU, da er nur dieser Partei kraft ihrer einflussreichen Schwesterpartei im Westen zutraute, das marode Wirtschaftssystem der DDR in angemessenem Zeitraum wieder auf die Beine zu stellen. Zu den Kommunalwahlen wenige Monate darauf gab er seine Stimme den Bündnis-Grünen, weil er sich von denen Ordnung und Sauberkeit in seinem Wohngebiet versprach. Zur Bundestagswahl im Herbst endlich, da inzwischen parteilos, stimmte Wunderlich für die PDS. Er ging hierbei davon aus, dass bei einem möglichen Nichteintritt der PDS in den Bundestag diese viel eher als kriminelle Organisation verunglimpft werden könne, was seiner Karriere im neuen Amt als ehemals langjähriges SED-Mitglied und Angehöriger der DDR-Grenztruppen zumal nicht unbedingt förderlich wäre.
Kommen wir nun die Geschichte abrundend zu Holstein und den Seinen.
Die fortschreitende „Germanisierung“ der Montagsdemonstrationen, wie er die Schwerpunkt-verlagerung der Demonstrantenrufe nach D-Mark und Wiedervereinigung bezeichnete, hielt Holstein schon Wochen vor der Jahreswende 1989 davon ab, sich an diesen Umzügen weiterhin zu beteiligen. Wiedervereinigung war nicht sein Thema.
Zwischen Weihnachten und Silvester des scheidenden Jahres machte sich Holstein nebst Daniela per PKW auf seine erste Reise in Richtung Westen, angestiftet durch Danielas heißes Begehren, auch endlich in den Besitz von Westgeld zu gelangen. Bis dahin wusste Holstein nicht einmal, wie diese Münzen und Scheine aussahen. Mit an Bord auch Vater Holstein, der war von Mutter Holstein beauftragt, sich nach ordentlichem Frischfisch jenseits der Grenze umzuschauen. Sie machten sich gegen Mittag auf die Reise und kamen im nächsten Ort nach der Grenze gegen sieben Uhr am Abend an. Knappe einhundert Kilometer legten sie in knapp sieben Stunden zurück. Diesmal aber lag’s nicht am Fahrzustand der „Soljankaschüssel“, schon vor Plauen gerieten sie auf der Autobahn in den Rückstau.
Holstein, der während seiner Militärdienstzeit an verschieden Ladungsmanövern der Warschauer Vertragsstaaten im Ostseeraum teilnahm und dabei zu Zeiten mehrere hundert, vielleicht sogar tausend Luft-, Wasser- und Landfahrzeuge gleichzeitig im Einsatz sah, konnte es nicht fassen, was er durch die vereisten Scheiben des PKW erblickte: eine nicht übersehbarer Masse von Fahrzeugen mit Kfz-Kennzeichen von Rostock bis Dresden quälten sich bei zunehmend eisiger Winterluft in das Abendrot, aus allen möglichen Richtungen einherkriechend, riesigen Lindwürmern gleich über die sich im fürchterlichen Zustand befindlichen Straßen der kürzlich geöffneten Grenze entgegen.
Holstein bog gleich nach der Grenzdurchbruch auf einen Feldweg seitlich der Autobahn in die nächste Ortschaft ab. Vor dem Gemeindeamt im Talgrund warteten im benzindurchtränkten Abendnebel die noch auf Westgeld erpichten DDR-Bürger mehrfach an die fünfhundert Meter in einer Reihe nebeneinanderstehend mit Geduld auf die ersehnten Geldscheine, begafft dabei von den schaulustigen Altbundesbürgern. Die fuhren in ihren Wagen an der im abendlichen Dunst stehenden Menge vorbei, klotzten ungläubig und überheblich aus dem warmen Inneren ihrer Fahrzeuge auf die Reihen ihrer Brüder und Schwestern aus dem Osten, als wären diese Tiere im Zoo und verpesteten mit ihren Abgasen die Luft noch zusätzlich, so dass das Atmen in der Talsenke immer schwerer fiel. Holstein schämte sich in der Masse eingekeilt seiner selbst und seiner Landsleute wie ein Bettnässer, doch an Umkehr war angesichts Daniela Begehrlichkeiten nicht zu denken. Gegen acht Uhr Abends hatten auch die Holsteins endlich ihr Begrüßungsgeld in der Tasche, an Frischfisch freilich wurde um diese Zeit nicht einmal ein Gedanke mehr verschwendet. Für die Heimfahrt inmitten der unübersehbaren Fahrzeugkolonnen verbrauchten sie wiederum Stunden über Stunden, etwa drei Uhr nachts kamen sie völlig übermüdet und verklammt zu Hause an.
Die Ergebnisse der ersten freien Volkskammerwahlen im März des Jahres 1990 versetzten Holstein einen herben Schlag. Wohl hatte er den deutlichen Stimmungsumschwung in der Bevölkerung zur Kenntnis genommen, hatte die nur mäßige Resonanz auf Christa Wolfs Aufruf zum Erhalt der DDR mit großer Verdrossenheit vermerkt, hatte vor allem in den Stadtvierteln, wo massiv die Arbeiterschaft zu Hause war, die schier unendlichen Fahnenmeere schwarz-rot-goldener Prägung ohne Emblem gesehen, hatte wohl bemerkt, dass zur Wahlkundgebung der SPD mit Willy Brandt als Gastredner gerade einmal zehntausend Zuhörer gezählt wurden, während zur Veranstaltung der CDU mit Helmut Kohl weit über Zweihunderttausend schon Stunden vor Beginn der Veranstaltung in der eisigen Kälte auf dem Platz fahnenschwenkend und die erste Strophe des Deutschlandliedes singend ausharrten, war sich aber dennoch sicher, dass der Wahlausgang übergewichtig von den linken Kräften, die PDS darin eingeschlossen, getragen werden würde. Er sah sich bitter enttäuscht. Dass die Mehrheit der Arbeiterklasse ihrem ihr zugeschriebenen Führungsanspruch in der sozialistischen Gesellschaft und der ihr zugedachten historischen Mission im Rahmen dieser Wahlen nicht nachkam sondern statt dessen den schnellen Weg zur harten Westwährung vorzog, verwunderte Holstein allerdings nicht, hatten ihn doch seit Jahren schon seine Erfahrungen und Erkenntnisse an diesen Postulaten der Parteiführung fortschreitend