Geschichten aus einem anderen Land. Joachim Gerlach
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Dienstag, 14. November 1989
Fast eine Woche nach dem Fall der Berliner Mauer und der Öffnung der Westgrenzen schien das Volk anderen Sinnes zu sein. Statt zur Demonstration für eine wirkliche demokratische Wende in der DDR, die ja beileibe noch nicht vollzogen ist, setzten sie sich mit allen möglichen Fahrwerken in Richtung Westen in Bewegung, um den Duft der freien, weiten Welt zu schnuppern und das Begrüßungsgeld zu kassieren. Manche, so hörte Holstein, seien sogar im Trabi vom fernen Wismar bis nach München gefahren, da soll es zusätzliche Begrüßungsgelder gegeben haben. Mutierte das Volk der DDR, welches gerade erst die wichtigsten Grundlagen der Demokratisierung des Landes erkämpft hatte, jetzt zu Bettlern und Bittstellern? Gab es im Land nicht Wichtigeres zu tun als zu gieren nach ein paar Westgroschen? Die Öffnung der Grenzen betrachtete Holstein als einen folgerichtigen Akt, einer im wahrsten Wortsinn grenzenlosen Euphorie verfiel er deswegen nicht, seine Heimat war die DDR.
Früh am Morgen nahm ihn sein Kollege Schwarzer zur Seite, ein sachlicher und überlegter Mensch. Früher diente der bei den Raketentruppen der NVA als Stabsoffizier. Für die Ziele der Bürgerbewegung hat er sich nie eingesetzt, er gehört aber auch nicht zum Kreis derer, die Holstein der konterrevolutionären Aufwieglung beschuldigen. Schwarzer beobachtete die Geschehnisse von einer höheren Warte ohne eigenes Zutun, weder für noch wider. Gestern machte er vor der nunmehr routinemäßigen Montagsdemonstration beim üblichen Bier nach Dienstschluss in der Stehkneipe an der Ecke eine Entdeckung. Dort standen an die zwanzig Kerle, die offensichtlich von einem in bayrischer Mundart sprechenden Mann bei reichlich Bier und Schnaps instruiert wurden. „Du stehst in der Ecke beim Zeitungskiosk, ihr zwei gleich vor dem Monument, du dort und du dort. Hier sind die Losungen.“ Der mutmaßte Bayer teilte Zettel aus, und die Eingeteilten zogen zu den ihnen zugewiesenen Stellplätzen ab.
Holstein hatte es selbst schon mit Befemden vermerkt, dass sich die versammelten Massen Sprechchören, die eigentlich von ganz wenigen, dafür um so lautstarker und eindringlicher vorgetragen wurden, schnell anschlossen. Massensuggestion. Sollte es nunmehr wirklich eine gezielte Steuerung geben? Möglich war alles. Und warum sollte ausgerechnet der Westen jetzt nicht alles tun, um mit seiner Unterstützung dem Sozialismus auf deutschem Boden ein für alle mal, zumindest für kaum absehbare Zeiten, den Garaus zu machen, eine bessere Chance als zur Zeit wird es dafür kaum geben. Holstein schien, dass man Schwarzers Beobachtungen Glauben schenken durfte, ein Schwätzer war der noch nie. Hatte er nicht selbst erlebt, wie während einer dieser Demonstrationen plötzlich sein Nebenmann, ein rechter Kümmerling eigentlich, dem man es eigentlich kaum zugetraut hätte, wie von Sinnen losbrüllte, dass ihm, Holstein, vor Schreck fast die Zigarette aus dem Mund gefallen wäre:“ Visfrei – bis Hawaii!“ Schon beim wiederholten Mal fielen nahezu alle im Umkreis Marschierenden begeistert in diesen Ruf ein. Massensuggestion eben.
Endlich fand die längst fällige, von Holstein und anderen mit aller Nachhaltigkeit eingeforderte Parteiversammlung statt. Holstein ging nach Lage der Dinge immer noch davon aus, dass nur eine konsequent demokratisch reformierte SED die anstehenden Probleme lösen könnte. Neues Forum, Vereinigte Linke, Demokratie waren allesamt Gruppierungen ohne Rumpf, waren nur Köpfe. Die neugegründete SPD-Ost hatte kaum Zulauf, schon gar nicht von den Massen. Die SED aber verfügt noch immer über Millionen von Mitgliedern, das waren doch nicht bloß lauter Luftblasen, da steckte doch geballtes Wissen und Gewissen dahinter, nur schnell freimachen musste sie sich von allen stalinistischen Inhalten, Erscheinungsformen und Funktionsträgern.
Als Holstein auf der Parteiversammlung dann seine Positionen verteidigte, und das DDR-Wirtschaftssystem als einen Lego-Bausteinkasten bezeichnete, den das Politbüromitglied Mittag offenbar je nach seinen Vorstellungen und Wünschen gebrauchte, entstand heftiger Tumult. Kein Wunder, die vor ihm Sitzenden waren allesamt Wirtschaftsplaner und hatten am Versagen der DDR-Wirtschaft ihren eigenen Anteil, der eine mehr, der andere weniger. Dann legte Holstein entgegen der ihm eigentlich noch immer auferlegten Schweigepflicht offen, dass er es zutiefst bedaure, zeitweilig im Auftrag des Ministeriums für Staatssicherheit und damit im engsten Sinne für dieser Partei- und Staatsführung tätig gewesen zu sein. Paulig, schon immer ein besonders eifernder Genosse, sprang wie von einer Tarantel gebissen von seinem Stuhl hoch, dass dieser mit Getöse nach hinten fiel und schrie in höchster Erregung und mit überschnappender Fistelstimme: „Das ist Verrat, das ist Verrat!“. Die stalinistische Fraktion der Versammlung forderte laut durcheinanderschreiend Holsteins sofortigen Parteiausschluss. Besonders hervor taten sich dabei zwei Parteimitglieder, welche schon immer, obgleich ohne dahinterliegendem Karrierestreben, etwas verworrene Positionen vertraten. Zum einen der Leiter der hauseigenen Telefon- und Fernmeldebrigade Schilling, zum anderen Holsteins Holsteins Kollegin und Fast-Nachbarin Dimitreos.
Schilling, das wusste Holstein, war ein rechthaberischer Einfaltspinsel, der zu oft schon mit dummen Bemerkungen auffiel. Erst kürzlich hat er allen Ernstes behauptet, wäre es ungerecht, wenn der Chefchirurg im Krankenhaus mehr verdient als die Putzfrau. Dies mit der Begründung, ohne die vorher den OP-Saal reinigende Putzfrau könne der Chirurg nicht operieren. Zudem war allgemein bekannt, dass Schilling dafür Verantwortung trug, dass zu den alljährlichen Maidemonstrationen der Beifall nicht verebbte. Wenn die auf der Tribüne Stehenden gegen Mittag müde wurden, und der Applaus, den sie der an der Tribüne vorbeimarschierenden Menge spenden, spürbar nachließ, drehte Schilling, der für die ordnungsgemäße Beschallung mit Arbeiter- und Kampflieder zu sorgen hatte, am Regiepult den eingemischten Beifall stärker auf. „Das bringt immer ganz enorm“, so befand er,“ die Flügellahmen wieder auf Trab.“
Kollegin und Fast-Nachbarin Dimitreos hatte vor vielen Jahren einen der Griechen geheiratet, die als kommunistische Partisanen in der ELAS kämpften und danach in die DDR übersiedelten. Manchmal fuhren Holstein und sie nach Arbeitsschluss mit Bus und Bahn zusammen nach Hause. War die Dimitreos auch freundlich, nett, stets hilfsbereit und umsorgend, so war sie andererseits von einer derart frappierenden politischen Naivität und einem solchen missionarischem Fanatismus befangen, dass es Holstein mehrfach die Sprache verschlug. Eines Abends stießen sie einmal nahe Holsteins Wohnung auf einen dort schon geraume Zeit gelbbraune Brühe über den Fußweg sprudelnden Wasserrohrbruch.
„Siehst du Gert, wenn wir einmal den Kommunismus erreicht haben, werden die Bewohner dieses Hause ganz freiwillig und unentgeltlich daran gehen, den Schaden selbst zu beheben.“
Holstein sah sie vor seinem geistigen Auge aus dem Haus treten, Hacken und Spaten geschultert. Den dicken Polizisten Bräuer, den eleganten Hochschullehrer Schuster, die protzige Intershop-Verkäuferin Zwiesel und all die anderen, die er mit Müh‘ und Not wenigstens dem Gesicht nach diesem Haus zuordnen konnte. Aber beim besten Willen gelang es ihm nicht, sich vorzustellen, dass diese Leute mit Fachkompetenz den Wasserrohrbruch beheben könnten Ganz und gar nicht vorstellen konnte er sich, dass sie dies darüber hinaus auch noch gänzlich freiwillig ohne jedwede Bezahlung tun würden.
„Wäre es da nicht ratsamer, wir verbinden unserer Vorstellung von dieser lichten Zukunft damit, dass schnell ein Fachmann zur Hand wäre, wenn man ihn braucht?“, hielt er ihr damals vorsichtig entgegen. Sie hatten nunmehr seinen Hauseingang erreicht, da galt es zu verhindern, dass Kollegin Dimitreos ihn vor seiner Haustür mit der ihr eigenen Lautstärke in einen mit abstrusen Ideen angereicherten Meinungsaustausch verstrickte.
„Nein, euch werde ich nicht das Feld überlassen,“ antwortete Holstein nun in der Versammlung auf das Ansinnen seiner Gegenspieler, „nun gerade nicht.“
Im Verlauf der hitzigen