Geschichten aus einem anderen Land. Joachim Gerlach

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Geschichten aus einem anderen Land - Joachim Gerlach

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Stimmungen und Meinungen aller Mitarbeiter. Nach Abstimmung mit den Kollegen seiner Abteilung heftete Holstein heute morgen seinen Standpunkt daran. Seine erste Forderung lautet: Sofortige Einstellung aller Arbeiten und Tätigkeiten, die rein politisch-ideologischen Charakter haben oder von der Bezirksleitung der SED angeordnet sind.

      Vor der sonst kaum wahrgenommenen Wandzeitung ballten sich nun die Kollegen zuhauf, heftig erregten sich die Gemüter, Zustimmung und Ablehnung hielten sich die Waage. Gegen Mittag war Holsteins Zettel wieder entfernt, so weit sollte die demokratische Öffnung wohl nicht verstanden werden. In den Büroräumen wurde indes darüber heftig weiter diskutiert.

      Nach dem Abendessen fuhr er noch einmal in das Stadtzentrum. Das war weiträumig von Verkehrspolizisten abgesperrt. Von anderen Sicherungskräften weit und breit keine Spur, auch nicht in den Nebenstraßen. Eine tausendköpfige Menge war auf den Straßen und Plätzen versammelt, ungeordnet aber diszipliniert. Sprechchöre erschallten, Holstein hörte christliche Gesänge, daneben aber auch die „Internationale“. Auf teilweise riesigen Bannern und Transparenten wurden freie Wahlen, Demokratie, moderner Sozialismus – kein Stalinismus gefordert. Ein Plakat trug die Aufschrift „Schnitzler in die Muppet-Show“, eines forderte „Keine Lügen mehr“. Von provisorischen Rednerplätzen sprachen Vertreter der gleich Pilzen aus dem Boden schießenden politischen Gruppierungen. Viele der versammelten Menschen hielten brennende Kerzen in ihren Händen. Wo waren die Genossen der Partei-Basisorganisationen?

      Montag, 23. Oktober 1989

      Auf der am Nachmittag stattfindenden Rechenschaftslegung der staatlichen Leitung zum Rahmenkollektivvertrag mit der Gewerkschaft forderte Holstein die Streichung sämtlicher finanzieller Zuwendungen aus dem Kultur- und Sozialfonds für die Betriebskampfgruppe, die betrieblich organisierte Gesellschaft für Sport und Technik sowie die Betriebsparteiorganisation. Das reichte wieder zum Eklat und zum Disziplinierungsversuch durch die Versammlungsleitung. Allerdings haben die meisten der Anwesenden zu seinen Forderungen auch diesmal wieder zurückhaltend geschwiegen.

      Gegen achtzehn Uhr war die Rechenschaftslegung zu Ende. Als Holstein aus dem Gebäude trat, sammelten sich bereits wieder Demonstranten. Sie stellten brennende Kerzen auf dem Sockel des Karl-Marx-Monuments nieder. Es waren schon wieder viele Hunderte.

      Von der Kreuzung her näherte sich dann ein kleiner Trupp, ihm voran ein Trommler, vorbei am Haus der SED-Bezirksleitung. „Neues Forum – schließt euch an!“, gellte es durch die Straßenschlucht. Die bis dahin noch den Straßenrand Säumenden, als hätten sie nur auf dieses Signal gewartet, folgten dem Ruf und formierten sich zum Demonstrationszug in Richtung Rathausplatz.

      Holstein lief ein Stück nebenher, sah die ihm schon bekannten Losungen wieder, auch neue darunter jetzt: „Stasi in die Produktion – nur für Arbeit gibt es Lohn!“, stand da auf einem Spruchband zu lesen. Zunehmend lauter aber erhob sich ein einziger Ruf „Wir sind das Volk, wir sind das Volk!“ Am Haus der Bezirksleitung der SED vorbeiziehend erklang der Sprechchor „SED – das tut weh!“

      Aus dem Strom der neben Holstein auf der Straße herziehenden Massen vernahm er plötzlich seinen Namen und staunte nicht schlecht: drei seiner Arbeitskollegen im Zug. Nun trat auch er in den Demonstrationszug ein, zögerlich jedoch, denn Holstein setzte immer noch auf die befreiende Kraft der Genossen von der Basis, von denen er annahm, dass sie dachten wie er.

      Den aus ihren Fenstern zuschauenden Bürgern wurde zugerufen „Auf die Straße! Schließt euch an!“, den den Verkehr regelnden Volkspolizisten „Zieht euch um und schließt euch an!“ und immer wieder „Wir sind das Volk! Demokratie –jetzt oder nie!“

      Trotz der ihn umfassenden euphorischen Erregung fühlte sich Holstein unwohl. Einerseits empfand er nun deutlich: Sein Platz war hier, hier unter dem Volk, welches aufbegehrte gegen den alleinigen Weisheits- und Machtanspruch einer Clique, die stets vorgab, ausschließlich im Sinne eben dieses Volkes zu handeln. Andererseits verlangte es ihn nach einer die Richtung vorgebenden Kraft. So heterogen die vom Demonstrationszug ausstrahlenden Losungen oder Sprechchöre waren, so heterogen war auch dessen Zusammensetzung, so heterogen waren auch die Interessen seiner Teilnehmer. Ohne eine einheitliche, die Vorstellungen aller auf einen Nenner bringende Orientierung sah er die Gefahr anarchischer Zustände und blutiger Auseinandersetzungen.

      Später fuhr Holstein noch kurz bei seinen Eltern vorbei, die Mutter mokierte sich über den ätzend nach fauligen Kartoffeln und Möhren riechenden Gestank in der Kaufhalle und hat Angst, die Nazis kämen mit den Unruhen auf die Straßen zurück. Sein Vater, als nun Fünfundsiebzigjähriger aller Ämter und Posten los und ledig, verfolgte die Demonstrationen mit größter Skepsis. Honeckers Rücktritt war für ihn ein derber Schlag. Er sah in dem Dachdecker stets das, was er sich für Holstein erträumte: den sozialistischen Arbeiterminister.

      Sonntag, 29. Oktober 1989

      Im Plenarsaal des Rathauses fand neun Uhr morgens eine bürgeroffene Diskussion statt, geleitet von einem Sprecher des Neuen Forums, anwesend auch Vertreter des Sekretariats der SED-Bezirksleitung. Der Saal war brechend voll, die Stimmung überreizt. Vor dem Rathaus standen noch Hunderte und begehrten umsonst Einlass, die drinnen geführte Diskussion wurde per Lautsprecher nach draußen übertragen. Holstein stand eingezwängt in der Masse und verfolgte mit zunehmendem Missmut den Disput. Sie schrien alle wild durcheinander, der Diskussionsleiter wurde überrannt, die beiden anwesenden Sekretariatsmitglieder der SED-Bezirksleitung kamen gar nicht erst zu Wort. Wenn die zum Mikrophon griffen, erhoben sich ein tosendes Pfeifkonzert und kreischende Puh-Rufe. Holstein hatte den Eindruck, dass hier eher lang aufgestauter Dampf abgelassen wurde. Nach zweistündiger, kontroverser und völlig ergebnisloser Debatte, die zunehmend auch im Kreis der Zuhörer selbst mit allem Pro und Kontra ausgetragen wurde, verließ er den Saal und war sich darüber im Klaren: So wird das nichts!

      Montag, 30. Oktober 1989

      Wunderlich nahm Holstein am Morgen beiseite: In der Betriebskampfgruppe übten sie jetzt unter der Leitung von Polizeioffizieren die gewaltsame Auflösung von Demonstrationen und Versammlungen und erlernten zu diesem Zwecke die Handhabung von Schlagstöcken. Allerdings seien sich die meisten Kampfgruppenmitglieder darin einig, niemals, auch nicht unter Befehl, gegen die derzeit aufbegehrende Bevölkerung vorzugehen. Zum einen teilten sie zumeist selbst deren Anliegen und Forderungen, zum anderen hatten schon zu den Krawallen am siebenten Oktober im Stadtzentrum Väter und Großväter in der Kampfgruppenuniform plötzlich ihren vom Wasserwerfereinsatz pitschnassen Söhnen, Töchtern und Enkeln gegenübergestanden.

      Die Zahl der Montagsdemonstranten hatte sich an diesem Abend vehement weiter erhöht. Erstmals wurden neben den vereinzelten roten Fahnen auch DDR-Fahnen mit herausgeschnittenem Emblemen und schwarz-rot-goldene Fahnen ohne Emblem im Zug der Tausenden mitgeführt und auf neuen Transparenten der alleinige Führungsanspruch der SED in Frage gestellt. Rufe nach dem Ersten Sekretär der SED-Bezirksleitung wurden laut.

      Dienstag, 31. Oktober 1989

      Holstein hatte übers Wochenende in einem offenen Brief seine Vorstellungen zur Gesellschaftsreform in der DDR formuliert und diesen an die Redaktion des „Neuen Deutschland“ gesandt. Der Kern seiner darin niedergelegten Gedanken bestand darin, dass die Führungsrolle der Arbeiterklasse überholt und der verfassungsmäßig diktierte Machtanspruch der SED nicht länger aufrechtzuerhalten sind. Diesen Brief verschickte er gleichsam an die Vorstände der in der Nationalen Front vereinigten Parteien und Massenorganisationen, außerdem an einen Vertreter des Neuen Forum. Holstein verstand dies als seinen Beitrag zu einer Koalition der Vernunft, die sich für die konsequente Überwindung des Stalinismus in der DDR einsetzt, unabhängig von den weltanschaulichen Positionen ihrer Teilhaber. Anstelle der für ihn bis zu diesem Zeitpunkt gültigen Parteidisziplin, der er sich über Jahrzehnte vom Prinzip her stets abtrichslos beugte, setzte er von nun an sein politisches Gewissen.

      Die seit seiner Kontaktaufnahme

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