Geschichten aus einem anderen Land. Joachim Gerlach

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Geschichten aus einem anderen Land - Joachim Gerlach страница 6

Автор:
Серия:
Издательство:
Geschichten aus einem anderen Land - Joachim Gerlach

Скачать книгу

seine Partei darin in Agonie, die, die immerfort bisher vollmundig verkündete, ein für alle mal die historische Wahrheit gepachtet zu haben. Da half ihm nicht mehr Lenins „Was tun?“, Lenin selbst auch nicht. Nur der alberne Witz erhielt plötzlich reales Gewicht, in dem Lenin, von einem Wunderdoktor aus dem Todesschlaf erweckt, helfen soll, die Probleme des Sowjetlandes zu lösen. Nach etlichen Tagen finden die Genossen dort, wo sie ihn nebst aktuellen Zeitdokumenten alleine zurück ließen, nicht ihn selbst sondern nur seine Nachricht vor: Bin auf der Aurora, die Scheiße geht von vorne los! Also, was tun? Alle Kennzeichen und Signale im Land deuteten in Richtung einer sozialen Revolution. Die Herrschenden können nicht mehr und die Beherrschten wollen nicht mehr, so sagte es Marx. Noch aber schienen sich die Herrschenden ihrer Sache sicher zu sein.

      Im Oktober begann der alle zwei Jahre stattfindende Lehrgang für die Mitarbeiter Holsteins Fachorgans. Fachliche und politische Vorträge und Seminare wechselten sich ab, in der Eröffnungsansprache hörte Holstein das alte Lied vom Sieg des Sozialismus, jetzt in den Farben schwarz-rot-gold, von der Überlegenheit der sozialistischen Planwirtschaft, von der wahrhaft demokratischen Gesellschaftsordnung in der DDR, von den Erfolgen der Sowjetunion beim Aufbau des Sozialismus-Kommunismus bis 1985 (danach schien es damit vorbei zu sein)...und die Flüchtlingswelle rollte derweil weiter, unaufhaltsam, westwärts.

      Für den wie gewöhnlich anberaumten militär-politischen Vortrag hatte man einen Oberstleutnant aus dem hiesigen Wehrbezirkskommando gewonnen, ein ehemaliger Divisions-Planungsoffizier einer brandenburgischen motorisierten Schützeneinheit, gerade und von dort frisch versetzt. Seine Darlegungen veranlassten Holstein zum radikalen und endgültigen Bruch mit den gegebenen Herrschaftsstrukturen.

      Der Offizier dozierte über die unter Gorbatschow neu erarbeitete Militärdoktrin des Warschauer Paktes, nicht mehr Angriff und Zerschlagung der gegnerischen Truppen auf deren eigenem Territorium sei jetzt angesagt, sondern nur noch Auffangen des Angriffs und Zurückdrängung der feindlichen Kräfte bis zur eigenen Landesgrenze. Während die restlichen Hörer mehr oder weniger mit sich selbst beschäftigt waren und vor sich hindösten, verfolgte Holstein, der langjährig Gediente, den Vortrag mit gespannter Aufmerksamkeit und erkannte einen Widerspruch. In der Pause trat er an den Oberstleutnant heran.

      „Das mit der neuen Verteidigungsdoktrin musst du mir bitte noch einmal etwas deutlicher erklären.“

      „Auf einen Nenner gebracht: Zu Breshnews Zeiten galt, der militär-politisch günstigste Zeitpunkt ist Schlagzeit für den präventiven Angriff des Warschauer Paktes. Mittels mehrerer Atomschläge werden drei, vier oder fünf Schneisen durch Westeuropa zum Atlantik getrieben, darin rollt nachsetzend die Masse unserer Panzerkräfte. Das gilt jetzt so nicht mehr.“

      Holstein wurde es speiübel. Diese Schweine, diese elenden Schweine! Auch wenn es nur halbwegs stimmte, was ihm der Oberstleutnant gerade unter dem Mäntelchen der Verschwiegenheit offenbarte, verheizt hätte sie sie, schonungslos und schamlos verheizt für ihre hirnrissigen und aberwitzigen und zugleich militanten Weltbefreiungs- und -beglückungsideen. Plötzlich war es ihm bewusst, warum sie zu seinen Dienstzeiten bei der Marine mit dem Schnellboot Stunden über Stunden schweißüberströmt in voller Schutzmontur fahren mussten, obgleich sie mit ihren Booten den radioaktiven Wolken leicht hätten ausweichen können. Plötzlich war ihm klar, warum der Warschauer Vertrag über solch massive Panzerarmeen verfügte. Und plötzlich sah Holstein seinen Sohn vor sich, der jetzt so alt war wie er damals, und es presste ihm den Brustkorb zusammen. Schluss, Schluss und weg mit diesen verdammten Schweinen! Und er konnte in seiner grenzenlosen Übelkeit und ohnmächtigen Wut keinen anderen Gedanken mehr fassen.

      Der Lehrgang wurde, bedingt durch die sich im Lande zuspitzende politische Situation, vorzeitig abgesetzt, die Mitarbeiter an ihre Arbeitsplätze zurückverwiesen. Der in der Folgewoche anberaumte nächste Durchgang fand überhaupt nicht mehr statt.

      Als Holstein am letzten Tag des Lehrgangs zu Hause eintraf, fand er ein Blatt Papier vor im Briefkasten, ein blassgelber, schon leicht zerknitterter Ormigabzug. Den handgeschriebenen Schriftzügen lagen die Zielstellungen der noch immer um ihre Zulassung ringenden Bürgerrechtsbewegung Neues Forum zugrunde. Holstein erkannte darin weder konterrevolutionäre Absichten noch sonst irgendwelche Formulierungen, die den Sozialismus in Frage stellten. Freie Meinungsäußerung, Freiheit der Medien, demokratische Wahlen, alles das waren Forderungen, die er selbst aufwerfen könnte.

      Neben den Forderungen waren Ansprechpartner aufgeführt, Namen, Adressen, Telefonnummern. Holstein beschloss, den Kontakt zu suchen, er wollte mehr über die Zielstellungen des Neuen Forum und dessen Sprecher in Erfahrung bringen. Nach vielen vergeblichen Versuchen gelang es ihm endlich, sich mit einer der auf dem Zettel Genannten zu vereinbaren. Er suchte sie in ihrer Wohnung auf und stellte schon an der Hauseingangstür des großen Mietshauses fest, dass die Frau, eine Künstlerin, observiert wurde: eine außergewöhnlich überdimensionierte Hauslaterne warf jedem Ankömmling ihr gleißendes Licht entgegen, genug, um aus dem Gebäude auf der Gegenseite jede den Hauseingang passierende Person auch in nächtlicher Dunkelheit ausreichend identifizieren zu können. Holstein sah keinen Sinn im Versteckspiel mit seinen ehemaligen Bundesgenossen, in diesem Kampf half nur das völlig offenen Visier, jegliche Geheimniskrämerei würde von Nachteil sein und konnte gegen die Reformkräfte verwandt werden. So schritt er gelassen durch die Tür und stattete der auf dem Ormigabzug genannten Ansprechpartnerin seinen angekündigten Besuch ab. Die kam gerade von einem dreiwöchigen Urlaub aus Ungarn zurück, wusste wenig auf Holsteins Fragen zu antworten und verwies ihn deshalb an ein anderes Mitglied ihrer Organisation. Holstein stellte alsbald mit Erschrecken fest, sie zählten nur ein paar Leute. Ein Arzt, einige Künstler, kein einziger Arbeiter. Sie verfügten über keine Organisationsstrukturen, keine sicheren Kommunikationskanäle, sie waren untereinander nicht erreichbar und das schlimmste von allem: sie wussten zwar, was sie alles nicht mehr wollten im gesellschaftlichen Leben der DDR, aber was an dessen Stelle treten sollte, das wussten sie nicht. Sie hatten kein Wirtschaftskonzept und keine außenpolitische Plattform. Sie hatten nur vage Vorstellungen von den neu zu gestaltenden innenpolitischen Zuständen. Ihre formulierten Zielstellungen beruhten auf ihren persönlichen Erfahrungen, die waren von keiner homogenen Gesellschaftstheorie getragen. Damit, das war Holstein sofort klar, konnten das Neue Forum wohl der Initiator des allgemeinen Volksaufbegehrens sein, niemals aber wirklich der die allgemeine Erhebung kanalisierende Hegemon.

      Da keine andere Kraft aber momentan in Sichtweite war, die sich so rigoros und selbstlos vor den Karren aller spannte wie eben das Neue Forum, sah Holstein nur den einen Weg: so schnell wie möglich war der Bogen zu spannen von den jetzt noch voranreitenden Forumsleuten zu den noch in den Startlöchern hockenden SED-Genossen aus den Basisorganisationen. So könnte der Bewegung Strategie und Taktik verschafft und die drohende Abgleitung in Anarchie und möglichem Bürgerkrieg oder auch in den Anschluss an die Bundesrepublik vermieden werden.

      Wir wissen längst, dass Holsteins Engagement in dieser Sache nichts brachte, nicht einmal in seinem lächerlich kleinen Umfeld und Wirkungskreis. Die Forum-Leute wollten mit den SED-Leuten nichts zu tun haben, die meisten der SED-Leute nichts mit dem Neuen Forum. Neben dem Neuen Forum traten zudem schnell andere Oppositionsgruppen und –parteien auf die politische Tagesordnung, und der Tanz um die Macht nach dem sich abzeichnenden desaströsen Abgesang der SED setzte ein. Die Tanzfläche als Sieger verließ letztendlich einer, der sich dies in den Tagen, da noch nichts entschieden war, da noch Millionen bewaffneter Kräfte in der DDR unter sozialistischer Befehlsgebung standen, da Holstein mit geradezu irrsinniger Wut und furchtbarer Angst gegen die Festung Stalinismus anrannte, nicht hätte träumen lassen: der mit Beginn des Nachwendejahres 1990 D-Mark, Freizügigkeit und blühende Landschaften ohne Ende versprechende Bundeskanzler Helmut Kohl.

      Folgen wir jetzt dem weiteren Verlauf der Geschehnisse an Hand der Aufzeichnungen aus Holsteins Tagebuch, welche er in den entscheidenden Tagen und Wochen der Wende anfertigte.

      Freitag, 20. Oktober 1989

      Nach dem Sturz Honeckers keimen auch im Fachorgan Planung zaghafte demokratische

Скачать книгу