Herbstfeuer. Robert Ullmann

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Herbstfeuer - Robert Ullmann

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nicht kalt würde, hielt aber nach einem kräftigen Schluck wieder inne. Wenn er nicht trank, würde man ihn früher oder später hinauswerfen und Geld hatte er keines mehr. Anschreiben ließen die Wirte hier nicht, schon gar nicht von Leuten wie ihm. Dieses Getränk musste also noch eine Weile vorreichen, denn jede Minute im Warmen, in der Timmrins Kleider weiter trocknen konnten, war für ihn von unbezahlbarem Wert. Er wärmte seine Hände am Tonkrug und blickte in den Raum. Die Pinte war gefüllt. All die armen Teufel aus den Fabriken, zu denen er eigentlich auch gehörte, vertranken ihre Tageslöhne. Unter ihnen waren auch Frauen. Die Arbeit der einfachen Fabrikarbeiter begann um 6 Uhr morgens und endete um 7 Uhr abends, wenn es keine Sonderschichten gab. Es war Samstag, der Tag, an dem viele ihren halben Wochenlohn in einem der schäbigen Trinkhäuser der Stadt verprassten. Timmrin hatte seine Anstellung vor zwei Wochen verloren. Er war dazwischen gegangen, als einer der Schichtführer einen Arbeiter mit einer lehren Schnapsflasche niedergeschlagen und dessen Gesicht in die Glasscherben am Boden gepresst hatte. Man hatte von dem jungen Mann abgelassen, der eigentlich ein Knabe von etwa vierzehn Jahren war. Timmrin aber hatte eine Tracht Prügel erhalten, die er heute, zwei Wochen später, noch deutlich in den Knochen spürte. Er selbst war schon 23 und eigentlich hatte er Glück, in der Fabrik eine „kriegserforderliche Arbeit“ zu verrichten. Die meisten jungen Männer in seinem Alter mussten an die Front und nur die wenigsten waren inzwischen noch naiv genug, diesen Dienst als eine Ehre zu betrachten. Jetzt, wo er seine Arbeit verloren hatte, würde es ihn auch bald treffen. Vielleicht würde er aber auch zeitnah an einem Galgen enden. Er wusste nicht, für welche Möglichkeit er sich entscheiden würde, hätte er die Wahl. Es war nicht unüblich, dass die Arbeiter in den Fabriken beschimpft, oft auch geschlagen wurden. Aber in letzter Zeit waren die Willkür und die Strafmaßnahmen brutaler geworden. Den Leuten ihrerseits blieb keine andere Wahl: entweder die Front, der Hunger, der Bergbau oder die Fabrik. Die letzten beiden Optionen blieben sich gleich. Am besten unter den einfachen Leuten ging es in diesen Tagen jenen, die einen ertragreichen Hof hatten, als Knechte und Erntehelfer dort arbeiteten oder das Fischereirecht besaßen. Freilich konfiszierte der Staat große Mengen der Ernte. Doch Nahrung wurde gebraucht, im Land, wie auch an der Front. Die Alten, die Kranken, die Krüppel, die Geistesschwachen, sie alle hatten in den Städten das gleiche Los zu tragen. Sie mussten in den Fabriken schuften. Und diejenigen, denen die Werke gehörten? Man hörte oder sah kaum etwas von ihnen. Hier in Ersthafen lebten sie im ersten Bezirk auf der anderen Seite des Ghor. Der Zutritt war nur Soldaten und „Ehrenbürgern“ der Stadt gewährt – Ehrenbürgern, die das Leben von gut dreiviertel der Stadtbevölkerung zu einer Tortur machten, die manche das Leben kostete. Die Arbeitsunfälle hatten sich gehäuft, die Löhne waren erneut gesunken, die Arbeitsbedingungen noch unerträglicher geworden. Aber warum? Timmrin und viele andere kannten die Antwort: Es war der Krieg, ein Krieg, der schon seit mehr als zwölf Jahren den Kontinent in Atem hielt. Waffen wurden gebraucht, Munition, Kleidung und Stiefel für die Soldaten. Doch obgleich er die Geißel vieler war, schien niemand wirklich etwas zu unternehmen, diesen Krieg zu beenden - im Gegenteil. Einige gingen freiwillig an die Front, weil es für sie attraktiver schien als die Arbeit in den Fabriken. Andere wussten, dass sie, wenn sie lebend zurückkehrten, wenngleich als Krüppel, wenigstens geringe Abfindungen erhalten würden. Freilich reichten diese nicht zum Leben, aber die sonst so kaltherzigen Aristokraten und Kapitalisten waren zumindest dann gewillt, einen Thamen in eine Bettelschale zu werfen, wenn ein Veteran dahinter saß - ein Soldat, der dazu beigetragen hatte, den Krieg weiterzuführen, dem sie Reichtum und Wohlstand verdankten. Veteranen war es gestattet, sich im ersten Bezirk aufzuhalten und auch dort zu betteln. Was neben den entstellten oder im Geiste gebrochenen Kriegsheimkehrern die Alten, die Väter und Großväter, die Mütter und Großmütter oder die jungen Knaben und Mädchen betraf, die oftmals bereits von Kind auf in den Fabriken schufteten: Sie alle hassten den Krieg mehr als alles andere. Doch wer würde etwas unternehmen, der Hochkönig? Die Könige, die seine engen Berater waren und denen es an Besitz, Land und Investitionen nicht mangelte? Das Parlament, dessen Abgeordnete bestochen waren von den Besitzern der Fabriken und denen, die Patente auf Waffen besaßen, die zu tausenden hergestellt wurden? Nein, wenn jemand etwas bewegen würde, dann das einfache Volk. Und so kam es, dass sich mutige Männer versammelt hatten, um die Kaserne von Ersthafen niederzubrennen. Sie wollten ein Zeichen setzten, zeigen, dass sie es nicht länger hinnahmen, dass dieser Krieg das Leben so vieler zerstörte, die Ressourcen des Landes verschlang und es seiner Söhne beraubte – der Söhne Tamhalls. Die Wachen überrumpeln, die Fenster einschlagen, die Fackeln hindurch werfen und sich so schnell als möglich aus dem Staub machen - so der Plan. Freilich war es fraglich, ob die Kaserne überhaupt Feuer gefangen hätte. Die Rekruten in der Festung hätten sich in Sicherheit gebracht, vorher womöglich sogar noch das Feuer gelöscht. Aber es war im Grunde auch gar nicht darum gegangen, dachte Timmrin bei sich. Es war wohl das Ziel, das jeder von ihnen im inneren verfolgte, ein Feuer anderer Art zu entfachen, ein Feuer, das sich über ganz Tamhall ausbreiten sollte: ein Feuer in den Herzen der Menschen. Doch nicht viele würden überhaupt davon erfahren, was sich in jener Nacht zugetragen hatte. Die Soldaten hatten die Rebellen bereits erwartet und zusammengeschossen. Erklärung konnte es dafür nur eine geben: Verrat. Aber wer? Wer hätte dazu fähig sein können? Der Nachtwächter, ging es Timmrin durch den Kopf. Er hatte nicht viel zu gewinnen bei dieser Sache. Er musste sich nicht jeden Tag in eine Fabrik schleppen. Freilich, sein ältester Sohn sei im Krieg gefallen, sagt man. Aber stimmte das? Timmrins Gedanken konnten nicht länger um diese Verdächtigungen kreisen, zu groß war der Schmerz über den Verlust seiner Freunde. Ganz besonders musste er an Torek denken, der sich für ihn geopfert hatte. Er war tot, er musste tot sein. Sie alle mussten tot sein. Wenn es Überlebende gab, waren sie sicher gefangen genommen worden und ihr Schicksal besiegelt. Timmrin ballte eine Faust. Waren sie alle umsonst gestorben? Torek hatte sein Leben gegeben, damit Timmrin fliehen konnte. Das Gewissen des jungen Mannes ließ Gedanken aufkommen, die er bis jetzt verdrängt hatte. Nun fühlte er sich schuldig, weil er Torek nicht zur Seite gestanden hatte, obgleich es nur seinen eigenen Tod bedeutet hätte. Er fühlte sich schuldig, weil die anderen, möglicherweise alle, gestorben waren, er aber lebte. Doch was nützte ihm das jetzt? Wäre er doch nur mit den anderen umgekommen, dachte er. Vielleicht wäre es besser gewesen. Allein hatte Timmrin keine Chance mehr etwas zu bewegen, oder seine Kameraden zu rächen. Er konnte ja noch nicht einmal mehr für sich selbst sorgen. Sollte er die Stadt verlassen, so wie es vor vielen Jahren einige Männer und Frauen getan hatten, um sich als Landstreicher und Waldläufer durchzuschlagen? Auf Landstreicherei stand Gefängnisstrafe und Gefängnis bedeutete in diesen Tagen meist den Tod. Nicht einmal die Bauern hatten reichlich zu essen oder die Ernteknechte, noch weniger die Handwerker. Dienstleister konnten sich meist nur dann über Wasser halten, wenn sie für die Oberschicht arbeiteten. Am wenigsten hatten die niederen Fabrikarbeiter und Bettler. Was blieb da für den im Kerker inhaftierten? Nichts als schmutziges Wasser und Reste! Die „Verlorenen“ finden, irgendwo da draußen, sich ihnen anschießen, überlegte Timmrin. Es waren hauptsächlich Männer und einige Frauen, die vor Jahren die Stadt verlassen hatten, um sich im Dorngebirge zu verstecken. Sie waren heute nicht mehr als eine halbvergessene Legende. Doch ein Mann, der neulich in die Stadt kam, um etwas Salz zu kaufen, hatte für Gerüchte gesorgt. Er habe furchtbar ausgesehen, hatte Timmrin vor kurzem aufgeschnappt. Sein wuchernder, verfilzter Bart und seine langen, halb ergrauten fettigen Haare sollen kaum noch etwas von seinem Gesicht zu erkennen gegeben haben. Barfuß, seine Kleidung zerfetzt und schmutzig, seine Hände vernarbt, so hatte man ihn beschrieben. Auf die Frage nach seiner Herkunft soll er zur Antwort gegeben haben: „Aus den Bergen. Dort bin ich zuhause“. Vielleicht ein verrückter Bettler oder einfach ein verkommener Vagabund? Vielleicht ein Verlorener? Das Dorngebirge war ein Küstengebirge, nicht so hoch wie die Schneeberge im Landesinneren, auch nicht besonders weitläufig. Menschen gab es wenige dort. Ein paar wenige Bergbauern hatten sich in den Tälern niedergelassen, dort wo es Bäche gab. Es war zu felsig für den Ackerbau. Nur Schaf- und Ziegenbauern gab es dort. Neben seiner geringen Urbarkeit existierte ein weiterer Grund, das Dorngebirge zu meiden - Die Bergschrate: graupelzige Wölflinge, die in merkwürdigen Zungen sprachen, die niemand verstand. Vor vielen Jahren soll es Menschen gegeben haben, die ihre Sprache erlernt hatten. Heute sind sie scheu geworden und dennoch können sie sehr gefährlich werden, heißt es vielerorts. Behaarte Menschenähnliche hatte es auch in den Wäldern einmal hunderttausende gegeben. Als große Waldflächen gerodet wurden, um Holz für den Schiffbau zu gewinnen, schwand ihr Lebensraum. Es hatte schon immer

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