heute schließlich auch die neuartigen Dampfmaschinen angetrieben werden, die mancherorts den Ackerboden der Großbauern bearbeiteten. Als immer größere Mengen von Bäumen, darunter auch die heiligen Riesenbäume der Waldschrate gefällt wurden, kam es vor fast zwanzig Jahren zum letzten großen Aufstand des Waldvolkes. Die Clans vereinten sich und schwarze, braune, wie rote Wölflinge des Waldes und ihre Mischlinge zogen in den Krieg. Sie verübten mehrere Massaker und machten die Waldstadt Bunthain dem Erdboden gleich. Für die Millitärs Tamhalls aber bedeutete dieser Konflikt keinen wirklichen Krieg, sondern viel mehr eine Gelegenheit, die Effizienz neuer Feuerwaffen an den Tiermenschen zu erproben. Die Schrate hatten den Salven der disziplinierten Schützenreihen nichts entgegenzusetzen und so flohen sie tiefer in die Wälder. Heute leben einige von ihnen in kleinen Reservationen, die sie nicht verlassen dürfen. Das sind meist mittelgroße Waldstücke, die von Wiesen umgeben sind. Außerhalb dieser darf Jagd auf sie gemacht werden, so wie auf gewöhnliche Tiere. Viele schon verhungerten, weil sie nicht genug Wild zu jagen hatten und nicht genug Früchte des Waldes finden konnten in den kleinen Reservationswäldern. Einige heißt es, verließen Tamhall in Richtung Osten, andere seien in die Berge geflohen, zu den grauen Bergschraten. Selten verirren sich Soldaten oder Jäger in die höheren Lagen des kargen Felsengebirges, wo sonst nur Wölfe, Luchse, Bären, Gämse und andere wilde Tiere leben. Tiefer im Dorngebirge soll es einige Höhlensysteme geben. Vielleicht hatten sich die Verlorenen in einem solchen verschanzt. Aber wie überlebten sie da oben? Von was ernährten sie sich und wie erwehrten sie sich der Schrate? Timmrin begann diese Gedanken zu vertreiben. Es waren Märchen, dachte er. Diese Leute waren alle tot. Ihm wurde klar, dass er sich diese Geschichten zurechtmalte, um der kalten Wirklichkeit zu entfliehen, in die er hineingeboren war. Sein Leben war entbehrungsreich gewesen. Von Kindheit an hatte es nur Arbeiten, Schlafen und sich um seinen jüngeren Bruder Kümmern bedeutet. Sein Vater war im Krieg gefallen. Seine Mutter war krank geworden. Sein kleiner Bruder war ein Krüppel gewesen von Geburt an. Timmrin und sein Onkel Torek hatten versucht, genug zu verdienen, um die beiden zu versorgen. Uranze, Timmrins Mutter, war vor einigen Jahren an Kummer, gebrochenem Herzen, an Krankheit und Hunger gestorben. Und nicht ganz einen Monat war es nun her, da hatte auch sein kleiner Bruder Tammrin für immer seine kleinen, unschuldigen Augen geschlossen. Eine kleine Träne kullerte über Timmrins Wange – und wieder ballten sich ihm die Fäuste! Und wer hatte Schuld? Er wusste es genau. Er kannte ihre luxuriösen Kutschen, in denen sie sich durch die Stadt bringen ließen, wenn sie sich ins Arbeiterviertel wagten, um ihre Werkshallen zu besuchen. Sie waren stets umgeben von Leibwächtern: finstere Männer, bewaffnet mit vierläufigen Pistolen und Faschinenmessern. Timmrin hatte auch von ihren technischen, kostspieligen Entwicklungen gehört: dampfbetriebene Maschinen kolossalen Ausmaßes, welche Pflüge ersetzen sollten, Kutschen ohne Pferde. Luxuriöse Bauwerke gab es im ersten Bezirk: Saunen, Bäder, Bordelle und Räumlichkeiten, in denen sich die Fabrikanten und Aristokraten trafen - zum Rauchen, zum Trinken, um sich geschwollene, hochgestochene Reden anzuhören. Mancherorts, so sagt man, gingen sie auch widernatürlichen Gelüsten nach. Sie mussten vernichtet werden, allesamt! Das war es, was Timmrin sich ersehnte. Sein Hass war beinahe größer geworden als sein Kummer, seine Angst und Verzweiflung. Timmrin trank wieder, diesmal lehrte er den Krug. Der Schankwirt wollte zu ihm herüberkommen, da tat er schnell so, als würde er weitertrinken. Wäre er an die Front gegangen, dachte er. Vielleicht hätte er Kriegsbeute mitgebracht, vielleicht genug um seine Familie zu ernähren. Von frühester Kindheit an hatte Timmrin in der Fabrik gearbeitet, mit seinen kleinen Fingern filigran die Papierpatronen mit Pulver gefüllt. Er war so schnell und gut in dem, was er tat, dass er auch später weiter in der Fabrik arbeiten durfte und nicht an die Front musste. In solchen Fällen zahlten die Fabrikmagnaten geringe Summen an den Staat, um sich Arbeiter, die eigentlich in wehrfähigem Alter und Zustand waren, für die Produktion zu „erkaufen“. Diese Fähigkeit, die beinahe alles war, was er beherrschte oder gelernt hatte, brachte Timmrin jetzt nicht mehr weiter. Was gab es überhaupt noch, an das er sich klammern konnte? Vom Hass allein schien er sich in diesem Augenblick zu ernähren, das wusste er. Doch was würde der ihm nützen? Den Kampf wieder aufnehmen? Wer würde ihm zur Seite stehen? Er wusste ja noch nicht einmal, woher er ein Dach über dem Kopf oder etwas zu essen bekommen sollte. Es gab NICHTS mehr für ihn in dieser kalten, unwirtlichen Welt. Sein Onkel Torek war tot. In die kleine Arbeiterwohnung konnte er nicht zurück. Er teilte sie mit elf anderen. Mehr als die Hälfte von ihnen fehlten jetzt und würden nie wieder zurückkehren. Der Stadtgarde konnte das genügen, um Rückschlüsse zu ziehen. Sicher wurden bereits die Wohnungen hunderter Arbeiter nach Waffen durchwühlt und Verhöre angestellt. Vermutlich wurde der eine oder andere ausgepeitscht, weil er die Ermittlungsarbeiten unzureichend unterstützte oder sich das nicht zur Anzeige bringen geplanter Straftaten nahelegen ließ. Und wenn es Kameraden gab, die überlebt hatten? Vielleicht hatte es außer ihm noch jemand anders geschafft. Aber dies brauchte schon mehr als Glück, dachte Timmrin. Die Wahrscheinlichkeit, einen von ihnen je wieder zu sehen, war mehr als gering. Und wieder überkam ihn tiefe, beißende Trauer. Plötzlich wurde er vom raunenden Gesprächston zweier Männer aus seinen Gedanken gerissen. „Hast du das mitbekommen? Die aus den Gruben und ein paar andere sollen eine Revolte angezettelt haben.“ Timmrin hatte sich von all den lauten Stimmen im Wirtshaus nicht aus seinem inneren Monolog ziehen lassen. Doch gerade der verhaltene Flüsterton des Mannes alarmierte ihn. „Das waren die Schüsse oder, letzte Nacht?“, erkundigte sich der Gesprächspartner. „Ja. Man sagt, die Soldaten haben nur wenige Salven gebraucht. Mich wundert nur ganz gehörig, wie sich die Gardisten so schnell formieren konnten. Immerhin haben die Jungs ja noch nicht mal die Kaserne erreicht. Die wurden alle auf der Brücke erledigt, wie´s scheint.“ „Nun, das ist glasklar. Die wurden erwartet. Irgendeiner hat gequatscht und die Gardeschweine wussten schon vorher, was gespielt wird.“ „Reiß dich mal zusammen“, empörte sich der andere. „Du kannst nicht schwätzen, wie dir das Maul gewachsen ist.“ „Wie ich schwätze bleibt sich gleich, solange ich keinen einfältigen Dung von mir gebe, wie du.“ Sein gegenüber wollte etwas erwidern, hielt aber inne, weil sich seine Aufmerksamkeit plötzlich auf die Tavernentür richtete. Ein Mann trat herein. Er war sehr hoch gewachsen. Sein schulterlanges Haar war vollständig ergraut. In sein Gesicht hatten sich einige Falten gegraben. Auch Timmrin bemerkte ihn sofort. Er schätzte ihn auf Anfang fünfzig. Der Fremde trug einen langen, grauen Wollumhang mit einer Kapuze, die nach hinten geschlagen war. Unter dem Umhang konnte Timmrin den Griff eines Schwertes hervorragen sehen. Der Alte zog seinen Mantel vor sich zusammen und schritt geradewegs auf den Tisch zu, an dem Timmrin saß. Die übrigen Tische waren voll. Nur Timmrin saß allein an seinem. „Habt Ihr noch Platz für mich?“, erkundigte sich eine raue, gelassene Stimme. „Das fragt man nicht in diesen Vierteln“, entgegnete Timmrin. „Ihr seid nicht von hier, oder? Setzt Euch.“ Dieser Mann war gewiss nicht von hier, oder jedenfalls gehörte er nicht in diese Viertel. Timmrin hatte das beinahe gleich erkannt. Er war hier aufgewachsen und wusste es einem anzusehen, ob er diesem Teil der Stadt entstammte. „Was darf es sein?“, der Wirt war an den Tisch herangetreten. „Ein Becher Wein“, gab der Fremde zur Antwort. „Und du?“, wandte der Wirt sich zu Timmrin, der sich weit über seinen Krug gebeugt hatte, um das leere Trinkgefäß zu verbergen. „Also, ich…“, stammelte er. „Du hast nichts mehr im Krug. Bestell oder sieh zu, dass du hier raus kommst! Wir sind hier keine Schlafstube!“ Timmrin wollte etwas erwidern, kam aber nicht dazu, weil der Fremde sprach: „Gib ihm auch einen Becher.“ Ungläubig starrte der Wirt ihn an, nahm Timmrins lehren Krug und schlurfte zum Tresen. „Also…vielen Dank, mein Herr“, Timmrin blickte verlegen zum Spender. „Na sieh mal einer an. Ich bezahle dir einen Becher Wein und schon bin ich dein Herr“, der Atle lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „So…so war das nicht gemeint. Ich wollte höflich sein“, rang Timmrin nach Worten. „Vorher klangst du nicht ganz so höflich“, der Alte lächelte ganz unscheinbar. Sie schwiegen eine kleine Weile, bis Timmrin´s Neugier siegte: „Darf ich fragen, woher ihr kommt?“ „Von hier.“ „Das möchte ich bezweifeln.“ „Wer hat dir eigentlich Manieren beigebracht, willst du mich Lügner nennen?“ „Nein.“ „Dann überleg vorher, was du sagst!“ „Es ist nur so, Ihr…wirkt nicht wie einer aus diesem Teil der Stadt, auch nicht wirklich wie jemand aus dem ersten Bezirk.“ Der Fremde schwieg und nippte bedächtig an seinem Wein. Schließlich antwortete er: „Ich bin im Händlerviertel geboren und ich war der Sohn eines Händlers.“ „Verstehe, dass erklärt einiges“, Timmrin hatte sich schon wieder dabei ertappt,