Büchernachlese: Rezensionen 1985 - 1989. Ulrich Karger
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Leider krankt dieses Buch an einem für Anthologien wohl typischen Platzmangel. Auch den Gouachen von Hertha Kurtz wurde mit dem sparsamen s/w-Druck auf dünnem Papier Gewalt angetan. Aber wer sich auf die „Lovestories“ einläßt, wird darüber hinwegsehen können.
Karlheinz Barwasser, Robert Stauffer (Hrsg.): Lovestories. Anthologie. Förtner & Kroemer Verlag, Köln 1986. 156 Seiten. ISBN: 3-924366-46-2
Vö.: carpe.com 31.12.1999; buechernachlese.de.vu 31.12.2000
Buchenau, Stefan: Die Flucht
Das Fazit des Klappentextes führte mich in die Irre:
„Die Unfähigkeit des Großstädters sich anzupassen wird ihm schließlich zum Verhängnis ... und ein Schicksal, in dem sich die Unvereinbarkeit zweier Welten widerspiegelt.“ So war ich angenehm überrascht, als ich die letzte Seite der Erzählung des Stefan Buchenau „verschlungen“ hatte. Tatsächlich stammt der Held dieser Erzählung aus der Großstadt schlechthin, aus New York. Patrick Conolly ist in der Bronx aufgewachsen und verdient sich sein Geld durch Fahren von Fluchtwagen oder Umrüsten gestohlener Autos. Zuletzt geht ein Coup schief, aber ihm wird noch Geld fürs Untertauchen geschickt. Er muß weit weg. Patricks Urgroßvater war Ire, also dann – auf nach Irland. Aber nicht Dublin, sondern Shannon Airport an der Westküste ist sein Ziel. Es ist näher an Amerika. Diese Situation wird ohne ein Wort zuviel in nicht ganz zehn Seiten auf den Punkt gebracht, ab dem die eigentliche Flucht sichtbar gemacht werden soll. Buchenau läßt seinen Helden und den/die Leser/in konsequenterweise nie ganz vergessen, daß die Fahndungsblätter der NY-Polizei auch die vergleichsweise einsame Insel erreichen könnten, aber diese Angst verblaßt zu einem unterschwelligen Gefühl, das einem anderen Platz machen muß, einem Gefühl, das noch bedrohlicher scheint, da es noch mehr das Dasein Patricks in Frage stellt. Wer sich schon als Urlauber von Irland beeindrucken ließ, darf noch einmal in Erinnerungen schwelgen. Buchenau hat offensichtlich gut beobachtet und gibt seine Impressionen Patrick mit auf den Weg. Den ständig wechselnden Himmel und das „unverschämt grüne Gras“ bemüht er dazu nur jeweils einmal – Irland und die Iren sind weit mehr als das. Eine Feier, auf der jeder was zu singen und zu tanzen hat, Kiefer, die am Weißbrot lutschen, weil die Zähne nur noch braune Stumpen sind, Geschichten, die nie aufgeschrieben und doch nie vergessen werden. Patrick gerät mehr und mehr in den Bann dieses Landes und seiner Menschen dann schreckt er wieder auf, sehnt sich nach seinem gewohnten Umfeld und .. wird wieder am Telefon vertröstet. Patrick ist sich zweier Verfolger bewußt: der Polizei und der unheimlichen, freundlichen Atmosphäre Irlands. Die bedrängen ihn, gegen sie trifft er Vorsichtsmaßnahmen, aber den dritten Verfolger entdeckt er nicht, bleibt sich dessen bis zum Ende unbewußt. Wir außenstehenden Leser/innen haben es da natürlich einfacher, nicht zuletzt weil Stefan Buchenau für die Sprachlosigkeit eine Sprache findet, die diese offenlegt anstatt sie durch übertrieben melancholisches Gesülze unüberwindbar wirken zu lassen. Das blaugrundige, von NIL Ausländer illustrierte Deckblatt gibt dem Inhalt auch äußerlich eine ansehnliche Note. Wer also für den Urlaub (vielleicht in Irland) ein entspannend-spannendes Buch sucht, sollte schnell zugreifen solange die Auflage reicht. Stefan Buchenau: Die Flucht. Roman. KKZR Verlag, Berlin 1986. 164 Seiten. ISBN: 3-924261-16-4 Vö.: carpe.com 31.12.1999; buechernachlese.de.vu 31.12.2000
Drewitz, Ingeborg: Eingeschlossen
J. und P. sind Kürzel, um die sich das ganze Handeln und Erzählen des neuen Romans von Ingeborg Drewitz drehen. Vordergründig als die nicht weiter ausgeführten Vornamen der Protagonisten eingesetzt, sollen sie zugleich zwei scheinbar diametral entgegengesetzte Lebensantriebe versinnbildlichen. Lebensantriebe, nicht (!) Prinzipien, die so alt wie die Menschheit sind, aber ihre Gestaltung in zwei, auch für uns heutige Menschen nachvollziehbaren Biographien finden.
Dem älteren P., Jahrgang 1908, gelang die Flucht vor dem Naziregime in die USA, um dort als Physiker im Team von Oppenheimer für die ersten in Hiroshima und Nagasaki gezündeten Atombomben verantwortlich zu zeichnen – Prometheus, der das von Zeus den Menschen verweigerte Feuer stahl ...
J., Jahrgang 1945, erst Studentenführer, dann schlecht bzw. gar nicht bezahlter Sozialarbeiter, versuchte bei den Ausgestoßenen oder noch gar nicht in die Gesellschaft Aufgenommenen mit Geduld und Güte, Vertrauen in sich und das Leben zu wecken, und wird schließlich Opfer dieser sich selbstverleugnenden Güte - Jesus, der die Menschheit zu erlösen suchte?
Damit sich diese Lebensläufe nicht nur zufällig treffen, sondern sich auch auseinandersetzen und „verknäueln“ können, fand Ingeborg Drewitz eine nachgerade geniale wie konsequente formale Lösung: Bar jeder äußeren Überlegenheit treffen sich P. und J. nicht im freien Lebensvollzug, der sie doch nur wieder in den Bann der eigenen Bezüge gezogen hätte, sondern in dem abgeschlossenen Raum und der ge(maß)regelten Zeit einer Nervenheilanstalt. Wegen der ähnlichen Krankheitsbilder werden sie zusammen in ein Zimmer verlegt ...
Aber hier hört die äußere Konstruktion auf, sich einzumischen, das allein führt nicht automatisch zum Gespräch, zur Auseinandersetzung. Selbst jetzt gäbe es noch genügend Möglichkeiten sich voreinander zu verkapseln, sich gegenseitig auszuschließen. Mit zarter Behutsamkeit läßt die Autorin erst nach und nach und sehr plausibel die beiden Männer aufeinander zugehen. Ist das Eis gebrochen, kommt es prompt zur Konfrontation: Zwei komplexe Charaktere, zwei Epochen ...
P’s Entscheidung, mitzuhelfen, die Sorgen und Nöte der gesamten Menschheit durch die Herstellung scheinbar billiger Energie abzubauen, entwickelte sich in der Vor- und Kriegszeit des 2. Weltkrieges. J’s Entscheidung, anstelle der rein rhetorischen Auseinandersetzungen als Studentenführer die Möglichkeit der konkreten Hilfestellung für die Randgruppen der Gesellschaft zu suchen, spiegelt sich in den Zeiten der APO, der Terroristenprozesse bis hin zu denen der Instandbesetzer. Jeweils davor und dazwischen stehen die Ausgangsdispositionen der Kinderzeit, geprägt durch die jeweiligen Elternhäuser, Frauen und Freunde ...
P. ist nicht Prometheus, so wie J. nicht Jesus ist!
Ingeborg Drewitz zeigt in ihrem Roman auf, warum Menschen die Wege des einen oder des anderen beschreiten. Dabei konnte sie nicht auf einen Archetyp und wollte auch offensichtlich nicht auf ein Prinzip zurückgreifen. Es mußten zwei „beinahe gewöhnliche Lebensgeschichten“ sein, die zu einer Entdeckungsreise in die Zwiespältigkeit des eigenen, durch hellenistische und christliche Kultur geprägten Selbst einladen.
P. ist bei allem Schrecken, den er vor sich verantworten muß, der in seiner Verzweiflung verständlichere, nähere Mensch. Im besten Wollen danebenzugreifen, aber immerhin etwas entschieden zu haben, wächst aus einer älteren, vertrauteren Wurzel als Liebe selbstlos leben zu wollen. J. mit seinem jesuanischen Antrieb gerade in dem jüngeren Handlungsträger festzumachen, ist provozierend und bedurfte neben der Sprachfertigkeit einer Ingeborg Drewitz auch der Kenntnis nicht nur von den Problemen der eigenen Jugend, sondern auch der nachfolgenden Generationen, um in dieser Figur nicht nur einfach das personifizierte Helfersyndrom zu stilisieren. Überhaupt Jesus ins Spiel zu bringen und ihn an einer „gewöhnlichen“ Biographie zu messen, hilft ein großes Tabu zu lüften.
Wie gesagt, P. ist nicht Prometheus und J. ist auf keinen Fall ein von den Toten auferstandener Jesus Christus, aber die beiden können noch voneinander lernen und am Schluß ganz gut miteinander leben – wenn auch vorerst nur in der Nervenheilanstalt.
Ingeborg Drewitz: Eingeschlossen. Roman. Claasen Verlag, Düsseldorf 1986. 240 Seiten, ISBN: 3-546-421795
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