Büchernachlese: Rezensionen 1985 - 1989. Ulrich Karger

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Büchernachlese: Rezensionen 1985 - 1989 - Ulrich Karger страница 8

Büchernachlese: Rezensionen 1985 - 1989 - Ulrich Karger Edition Gegenwind

Скачать книгу

Daniel: Keinen Schritt weiter

      Einen Meter vor dem Abgrund bewegen sich diese Geschichten, rufen ein Anspannen der Nackenhaut hervor, wie einst die Thriller von Hitchcock. Anstelle von aufatemlassenden Happyends muß mensch sich allerdings, je nach Stärke seiner/ihrer Verdrängungsmechanismen, mit dieser Gänsehaut noch eine Weile umgehen. Derart von der Dramaturgie gefesselt geraten die den Geschichten zu Grunde liegenden Geschehnisse, wie sozial-emotionale Aushöhlung oder ökologischer Selbstmord auf Raten, in den Hintergrund. Banale Weisheitslehre wird damit vermieden, überläßt es dem/der Leser/in seine/ihre (womöglich letzten Schlüsse) zu ziehen.

      Es braucht schon Lebenserfahrung und wache Sinne, solche Geschichten aufzubauen, und sprachliche Kunstfertigkeit diese Inspirationen dann so gekonnt umzusetzen. Z.B. einer Ewiggestrigen im Aldi zuzuhören, oder mit einem alten Friedhofsgärtner einem Telefonkabel bis ins Grab folgen, dem Liebesspiel zweier Kräne zusehen oder bei einem 92-jährigen eine mumifizierte Frau aufstöbern und zuletzt zu Tode verletzt auf einer Eisscholle die Elbe runter ins Meer treiben, sind nur einige „Ausblicke“ auf das Kaleidoskop des alltäglichen Schreckens.

      Wer hat soviel, daß er davon abgeben kann, ohne arm daran zu werden?

      Daniel Grolle, erst 23 Jahre jung und schon vom renommierten Luchterhand Verlag entdeckt. Literaturpreise sind bei ihm sicher nur noch eine Frage der Zeit.

      Daniel Grolle: Keinen Schritt weiter. Kurzgeschichten. Luchterhand Verlag, Darmstadt 1986. 102 Seiten, ISBN: 3-472-86641-7, später ISBN 3-630-86641-7

      Vö.: Bremer Blatt 1/1987; zitty 2/1987

      Harth, Ulli: Die vollendete Sieben der Achterbahn

      Dem Buch in Paperback und Großauflage wird Konkurrenz gemacht.

      Eschwege und Wölbling – der eine Drucker, der andere Zeichner – haben einen Kleinverlag gegründet und setzen auf das gut gestaltete Buch in begrenzter Auflage. Das hat seinen Preis. Die signierte Vorzugsausgabe mit 8 Originalgrafiken soll 188 DM kosten. Aber auch die „Normalausgabe“ trägt eine handschriftlich eingetragene Nummer und das Autogramm des Autoren Ulli Harth und des zeichnenden Verlegers Wölbling. Preis 35 DM.

      Harths Miniaturgrotesken sind Texte, die in ihrer Form an Aphorismen erinnern, aber nicht mit schwer beladenen Sätzen das Wohl der Welt aufdrücken wollen. In diese Worte kann mensch hineinpusten, daß sie bis zum Großen Bären fliegen, so leicht liegen sie auf den Seiten. Manchmal ist das aber auch, als wenn ein Staubkorn oder eine Mücke unters Augenlied gerät, sodaß es tränt. Das fängt z.B. so an:

      „Mit runderneuerten Gesichtern rollt die Passantenherde über den Zebrastreifen ...“ und hört in einem anderen Text so auf: „Eine öffentliche Hand quillt soviel gepreßtes Lächeln, wie kein Mensch auf einmal verputzen kann.“ Aber solche Auszüge werden diesen bis ins Komma ohne Brüche durchgearbeiteten 41 Miniaturgrotesken nicht gerecht. Dafür muß sich mensch ein wenig Zeit abknapsen und sie auf der Zunge zergehen lassen. Wölblings Flachdruckgrafiken sind den Texten kein Gegen-Gewicht, vielmehr versuchen sie die Wortspiele wie besagtes Pusten aufzunehmen und noch weiter fortzutragen – oft gelingt das auch, manchmal ist es nur wie doppelt gemoppelt, sind die Texte farbiger als die Bilder. Wer für die Geschenktage nach etwas Ausgefallenem, Besonderem sucht, und sich nicht von dem kleinen gelben Nachtgespenst auf dem blauen Unschlag abschrecken läßt, könnte in diesem Buch das Passende gefunden haben. Ulli Harth: Die vollendete Sieben der Achterbahn. Miniaturgrotesken. Eschwege & Wölbling Verlag. Friedrichsdorf 1986. 76 Seiten. 35,- DM. ISBN: -- Vö.: carpe.com 31.12.1999; buechernachlese.de.vu 31.12.2000

      Körner, Heinz (Hrsg.): Wieviele Farben hat die Sehnsucht

      „Gefährliches Zeug“ nennt ein Bekannter von mir alles, was dem Genre Märchen nahekommt. „Gefährlich“ deshalb, weil es so moralisch sei. Demnach ist die „Märchensammlung“ WIEVIELE FARBEN HAT DIE SEHNSUCHT hochbrisanter Stoff. Der Lucy Körner Verlag hat den Anspruch „Bücher für eine bessere Welt“ zu verlegen und apostrophiert die Sehnsucht als „eine Kraft, die unsere Träume in die Wirklichkeit trägt“. 12 Geschichten, die mit ihren gewollten aktuellen Bezügen eher Gleichnisse als Märchen sind, laden ein, dieser Kraft auf die Spur zu kommen. Roland Kübler ist allein mit sechs Geschichten vertreten, an denen ich vor allem die poetische Sprachmelodie schätze. So läßt er u.a. Wale fast schon hörbar über die grausame Geschäftstüchtigkeit der Menschen singen, und man mutet sich danach auch traumselig ein Märchen zu, das mit „Der Sinn des Lebens“ überschrieben ist. Die fünf anderen Autoren/innen W. Eicke, M. Eichborn, P. Partisch und B. Losse mit je einer Erzählung und Heinz Körner mit zweien fügen sich da insgesamt gut ein bzw. tragen redlich ihr Quantum Farbe bei. Fragen nach Grundsätzlichem werden hier märchenhaft unbeschwert angegangen, und finden Lösungen, die einem den Weg zum Therapeuten ersparen oder eröffnen mögen. „Die Frau aus dem Regenbogen“ scheint allerdings direkt auf der Couch aufgenommen – wie hier der Sohn dem „alten Vater“ dessen Sprachlosigkeit Beine macht, ist nicht mehr anrührend, sondern schon penetrant in seinem Wunschdenken. Das Gros der Geschichten baut sich aber straff und ohne Brüche auf, und erfreut den, der Geschriebenes dieser Art liebt, durch das Fehlen jedweder Hektik. Ruhig und bedächtig, heiter und stets besinnlich geben sie einem die Zeit, wieder mal über die offensichtlich eindimensionale Perspektivlosigkeit der Macht- und Geldmenschen zu staunen und selbst wieder etwas Sehnsucht zu wagen. Die Illustrationen von H. Deinhard, S. P. Joshua und R. Schröder sind in bewährter Pünktchenmanier liebevoll bis ins kleinste Detail ausgestaltet und wie die Schrift braun gedruckt. Jetzt schnell Kerzen besorgen, auf den Abend warten, dann lesen und die Farben zählen. Nur weil die Anderen, die Cleveren Moral als Blödsinn für sich vereinnahmen, muß man sich ihnen ja nicht gleich cool über den Dingen stehend anschließen. Heinz Körner (Hg.): Wieviele Farben hat die Sehnsucht. Märchensammlung. Lucy Körner Verlag, Fellbach 1986. 96 Seiten. ISBN: 3-922028-12-8 Vö.: Bremer Blatt 9/1986; zitty 15/1986; Ulcus Molle 10-12/1986

      Krokisi, Barbara: Es war einmal

      „Hänsel und Gretel“ oder „Rotkäppchen“ zu besprechen, macht keinen Sinn, sind doch diese und die anderen Märchen der Gebrüder Grimm (noch) deutschsprachiges Kultur- und Allgemeingut.

      Nach längerer Pause ist der Metta Kinau Verlag mit neuer Inhaberin wieder im Geschäft. Seit nunmehr drei Jahren produziert dieser kleine Verlag recht erfolgreich u.a. phantastische Alltagsgeschichten und moderne Märchen, die vor allem durch die liebevoll gestaltete Aufmachung auf sich aufmerksam machen. Die Inhaberin Bettina Plenz hat sich außerdem die Aufgabe gestellt, die Tradition des Verlages zu pflegen und „alte Bücher“ neu aufzulegen, die ihr von Inhalt und Gestaltung her noch heute reizvoll erscheinen. Ihre Vorgänger verlegten 1947 zwölf der schönsten Grimm’schen Märchen – das altertümliche, in Blei gesetzte Schriftbild und die kunstvoll gearbeiteten Scherenschnitte machen aus der unveränderten Neuauflage ein Zeitdokument und zugleich ein bibliophiles Kleinod. Barbara Krokisius verstand es, das schwarze Papier vor weißem Hintergrund so zu schneiden, daß nicht flache Schatten ahnen oder raten lassen, was gemeint ist. Vielmehr arbeitete sie z.B. Blatt für Blatt eines Rosendikichts um Dornröschen heraus und gab ihren Schnitten Raum und Perspektive.

      Bei aller Liebe zur Kunst ist es eben auch ein Genuß, gekonntes Handwerk schauen zu können. Auch die scheinbar so sattsam bekannten Märchen mal wieder im annährend originalen Sprachduktus nachzulesen, hat seinen eigenen Reiz, ist keineswegs nur skurril und schützt ein Märchen wie Aschenputtel vor der Verwechselung mit Walt Disneys Cinderella.

      Seltsam berührt eigentlich nur das damalige Nachwort, das zwei Jahre nach dem Holocaust ein Wort wie

Скачать книгу