Tattoo. Andreas Richter

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Tattoo - Andreas Richter

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»Guten Morgen, Herr Benthien. Hier spricht Karla von der Rezeption. Es ist sieben Uhr. Sie wollten um diese Uhrzeit geweckt werden.«

      Lars grummelte. »Sagten Sie, Ihr Name ist Karla?«

      »Ja, richtig.«

      »Karla, welches Jahr haben wir?«

      »2013.«

      »Okay. Und ist heute der erste April?«

      »Nein, der fünfzehnte Dezember.«

      »Hm. Also ist Ihr Anruf kein übler Aprilscherz und es ist wirklich an der Zeit, aufzustehen und die Welt zu erobern?«

      »Für die ganze Welt könnte es möglicherweise nicht ganz reichen, aber Sie werden sicherlich einen erfolgreichen Tag haben.«

      »Erfolg kann ich heute tatsächlich gut gebrauchen. Danke für den Weckruf, Karla.«

      »Sehr gerne.«

      Ein kurzes Knacken, gefolgt von einem durchgehenden Summen. Karla von der Rezeption hatte aufgelegt.

      Lars schlug die Augen auf, doch in dem Zimmer war es stockdunkel. Was das Tageslicht betrifft, war sieben Uhr am fünfzehnten Dezember mitten in der Nacht, zudem lag das Zimmer zum Hinterhof raus. In einem geschlossenen Sarg war es kaum dunkler.

      Lars spielte kurz mit dem Gedanken, zu Hause anzurufen, doch er verwarf die Überlegung. Es war zu früh, Melanie sollte endlich mal länger schlafen. Die vergangenen zwei Monate waren für sie anstrengend genug gewesen, sie hatte sich alleine um alles kümmern müssen.

      Während der zurückliegenden sieben Wochen hatte Lars sich zwei freie Sonntage gegönnt, ansonsten hatte er jeden Tag gearbeitet, mitunter bis in den späten Abend hinein. Er war Inhaber eines Planungsbüros für Erneuerbare Energien mit dem Schwerpunkt Photovoltaik. Mit mehreren festen und einigen freien Mitarbeitern projektierte er mittlere bis große Anlagen zur direkten Umwandlung der Sonnenenergie in elektrischen Strom. Das Projekt, für das er nun hier in Düsseldorf war, war die Photovoltaik-Lösung für eine Unternehmensgruppe mit Standorten in Deutschland und im benachbarten Ausland. Heute musste er in der Düsseldorfer Unternehmenszentrale das Projekt präsentieren. Wenn alles glatt lief, dürfte er seinen bislang größten Auftrag so gut wie in der Tasche haben.

      Als Lars sich vor rund drei Monaten dem Vorstand der Unternehmensgruppe vorgestellt hatte, hatte er zuvor einen Fragebogen ausfüllen müssen, in dem es auch um einige persönliche Angaben ging, die jedoch freiwillig waren. Lars hatte auch diese Fragen wahrheitsgetreu beantwortet, denn erstens hielt er es in Anbetracht des lockenden Auftrags für schlauer, und zweitens hatte er nichts zu verheimlichen. Also gab er wahrheitsgemäß an, dass er vierundvierzig Jahre alt und mit Melanie verheiratet war, die neun Jahre jünger war und mit der er seine knapp fünfjährige Tochter Juliana hatte. Zu dritt lebten sie in einer kleinen Gemeinde in Schleswig-Holstein im Hamburger Speckgürtel.

      Als Lars Melanie das erste Mal getroffen hatte, war er bereits seit einigen Jahren von Sonja geschieden gewesen. Sonja und er hatten damals überstürzt geheiratet, keine drei Monate, nachdem sie sich kennengelernt hatten. Doch sie hatten nicht zusammengepasst. Nach dem Scheidungstermin hörten sie nichts mehr voneinander. Mit Melanie hatte Lars es dann langsamer angehen lassen. Erst nachdem sie länger als zwei Jahre zu-sammen waren, hatte er ihr einen Heiratsantrag gemacht. Sie hatte sofort angenommen.

      Am Abend vor der Eheschließung starb Lars' Vater. Er saß mit seiner Frau Helga bei einem Glas Rotwein, als sein Herz plötzlich den Dienst quittierte. Lars und Melanie wollten die Hochzeit verschieben, doch seine Mutter bestand darauf, dass alles wie geplant über die Bühne ging.

      Nach einer Nacht ohne Schlaf heirateten sie standesamtlich im engsten Kreis. Für den Abend hatten sie die Angehörigen und einige Freunde in ein Restaurant geladen, doch kaum jemandem war zum Feiern zumute. Melanies und Lars' schönster Tag wurde zu einer traurigen Veranstaltung. Die meisten Gäste gingen früh, und Lars betrank sich dermaßen, dass er sich bereits vor Mitternacht nicht mehr auf den Beinen halten konnte.

      Knapp ein Jahr später kam Juliana auf die Welt, gesund und hübsch. Melanies und Lars' Welt war perfekt und alles, was sie sich wünschten, war, dass sich daran nichts änderte.

      Das erneute Schnarren des Telefons riss Lars aus seinen Gedanken heraus. Er nahm den Anruf entgegen.

      »Hier spricht noch mal Karla von der Rezeption. Bitte entschuldigen Sie die Störung, Herr Benthien, ich wollte nur sichergehen, dass Sie nicht wieder einschlafen. Sie klangen vorhin so, als könne das durchaus passieren.«

      »Das ist nett von Ihnen, Karla, Ihr Anruf rettet mich tatsächlich.«

      Es war geflunkert, doch Lars verspürte das Verlangen, Karla etwas Nettes zu sagen.

      Karla wünschte ihm erneut einen schönen Tag und legte auf.

      Lars schaltete das Licht ein. Zur Orientierung ließ er den Blick einmal durch den Raum schweifen, dann blickte er auf seine auf dem Nachtschrank liegende Armbanduhr. Er war gut in der Zeit. Mit Schwung stand er auf und ging in das Badezimmer.

      Er warf nur einen kurzen Blick in den Spiegel. Lars wusste auch so, was ihn erwartete, nur mit dem Unterschied, dass die bittere Wahrheit jeden Tag eine Nuance härter wurde. Die Fältchen um Augen und Mund wurden länger und tiefer und die Anzahl der grauen Haare nahm zu. Auch wenn Lars' Äußeres sich insgesamt gut gehalten hatte, lagen seine besten Jahre nun mal hinter ihm, selbst wenn Melanie nicht locker ließ zu behaupten, er sehe zunehmend interessanter aus – was in Lars' Ohren ein drittklassiges Synonym für alt war.

      Er zog das T-Shirt über den Kopf und ließ es achtlos zu Boden fallen. Dann trat er dicht an den Waschtisch und nahm die Dose Rasierschaum und das Rasiermesser aus der Kulturtasche. Er ließ das Wasser laufen und regulierte die Temperatur, dann wässerte er das Gesicht und den Hals. Anschließend sprühte er Rasierschaum in die rechte Handfläche, stellte die Dose ab und blickte in den Spiegel, um mit der Rasur zu beginnen – als ihn ein plötzlicher Hieb aus Verwunderung und Schrecken traf und fast von den Beinen riss.

      Lars blieb die Luft weg.

      Was zum Henker ... .

      Eine Zeichnung. Sie prangte mitten auf Lars' linkem Oberarm und er sah sie zum ersten Mal – denn bisher war sie nicht da gewesen. Lars riss sich von dem Spiegel los und starrte auf seinen Arm. Türkis. Blau. Rot. Schwarz. Die Farben schienen zu tanzen, sich übereinander zu legen und ständig neue Formen zu bilden. Es war, als blickte Lars direkt in ein Kaleidoskop.

      Was – in – aller – Namen – war – das?

      Reflexartig strich er mit der rechten Hand über die Farben und schmierte dabei Rasierschaum auf den Arm. Er riss das Handtuch vom Haken und wischte den Schaum ab. Die Farben hörten auf zu tanzen, und nach und nach bildete sich ein Motiv. Mit zusammengekniffenen Augen starrte Lars drauf. Nach mehreren Sekunden begriff er endlich, was er sah.

      Es war ein Liebesherz. Ein fingerdicker blutroter Rand, um-schlungen von einem schwarzen Strang spitzer Dornen. In der Mitte des nicht mit Farbe ausgefüllten Herzens standen drei violette einzelne senkrechte Balken.

      »Wo kommt das denn her?«, murmelte Lars ungläubig. Er strich über die Farben und betrachtete seine Fingerkuppen, doch die Farben hatten nicht abgefärbt. Hektisch drückte Lars den Handseifenspender, und ein dünnes Band gelbliche, nach Limette riechende Masse fiel auf seine Handfläche. Er verrieb die Seife auf dem Arm, gab Wasser

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