Tattoo. Andreas Richter
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Der Arzt sagte: »Noch eine Sache: Keine Krankenkasse über-nimmt dafür die Behandlungskosten, selbst nicht bei Privat-patienten. Das Entfernen der Tätowierung wird kein günstiges Vergnügen werden. Für das Geld hätten Sie sich vermutlich beide Arme komplett tätowieren lassen können.«
»Wenn das meine einzige Sorge wäre, würde ich vor Freude tanzen«, murmelte Lars.
Der Arzt legte den Kopf leicht schief und sagte: »Herr Benthien, weshalb habe ich den Eindruck, dass nicht alles zum Besten steht? Um ehrlich zu sein: Ich frage mich, ob mit Ihnen alles in Ordnung ist.«
»Das frage ich mich allerdings auch«, sagte Lars und wich dem Blick des Arztes aus.
6.
Aus den kleinen Lautsprechern drang die Musik von Bruce Springsteen und seiner E-Street-Band. Es war nicht unbedingt die Musik, die für gewöhnlich an Heiligabend im Hintergrund lief, doch er hatte die CD ungefragt eingelegt und ihr war es gleichgültig, welche Musik lief, denn für sie war es ein Abend wie jeder andere. Dennoch hatte sie sich Mühe gegeben, dem Anlass ein wenig Würde zu zollen und den Tisch mit roten Kerzen sowie einigen Tannenzweigen und Nüssen dekoriert.
»Tja, an dieser Stelle wünscht man für gewöhnlich Frohe Weihnachten«, sagte er und griff zum Weinglas. »Gehört sich ja schließlich so und die gute Kinderstube vergisst man sein Leben lang nicht. Also dann: Fröhliche Weihnachten, Engel!«
Sie nahm ihr Glas, hob es zum Anstoßen an und rang sich ein schmales Lächeln ab.
Sie nippten am Wein, dann sagte er: »Die frohe Botschaft dieses Heiligenabend lautet: Das kommende Weihnachtsfest feierst du aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mehr in Gefangenschaft, sondern wieder in Freiheit.«
»Ich bin keine Gefangene. Bei dir zu sein, ist das Mindeste, was ich tun kann.«
»Nein, es ist nicht das Mindeste, sondern das Nobelste und Gnädigste, wozu ein Mensch überhaupt fähig ist. Du bist der wundervollste und selbstloseste Mensch, der auf diesem verrotteten Planeten lebt.«
Sie stellte das Glas ab, stand auf und ging um den Tisch herum. Sie füllte ihm Rotkohl und Kartoffelpüree auf, anschließend legte sie ein Stück Rinderbraten auf seinen Teller und schnitt es für ihn klein. Dann gab sie ihm einen Kuss auf die Stirn, setzte sich wieder und kümmerte sich um ihren Teller.
Er sagte: »Es sieht alles wirklich sehr lecker aus, Engel, und garantiert schmeckt es auch so. Wie gut, dass mir wenigstens die Geschmacksnerven geblieben sind. Das ist eine nette Geste, findest du nicht auch? Widmen wir dieses Essen dem Oberkönig, denn schließlich ist Weihnachten seine Party mit dem ganzen Zirkus, der dazu gehört.«
Er nahm die Gabel, stieß sie in ein Stück Fleisch und steckte es in den Mund. Während er langsam kaute, nickte er anerkennend und zwinkerte ihr zu.
Sie begann ebenfalls zu essen.
I’m countin’ on a miracle, sang Springsteen, baby I’m countin’ on a miracle, darlin’ I’m countin’ on a miracle to come through.
»Hörst du das, Engel?«, fragte er mit vollem Mund. »Er erzählt von einem Wunder, auf das er wartet. Ich mag den Kerl und seine Musik, aber er dürfte wissen, dass es keine Wunder gibt, also sollte er auch nicht davon singen. Man verarscht die Leute nicht.«
Sie reagierte nicht. Eine Zeitlang aßen sie schweigend und vermieden es, einander anzusehen.
Schließlich sagte er: »Ich habe gar kein Geschenk für dich, fällt mir gerade auf. Hm, ich hätte mir etwas einfallen lassen müssen, aber nun ist es zu spät. Ich frage mich: Wenn die Dinge anders gelaufen wären, wenn sie also ihren normalen Verlauf genommen hätten, welches Geschenk von mir würdest du dann heute Abend gerne auspacken?«
»Selbst dann hätte ich nichts von dir zum Auspacken. Wären die Dinge nicht so wie sie sind, würden wir diesen Abend wohl kaum miteinander verbringen. Vielleicht hätten wir kurz telefoniert und einander einen schönen Heiligabend gewünscht oder uns einen Kartengruß geschickt, aber mehr wäre nicht geschehen. Du würdest in deiner Welt leben und ich in meiner.«
»Also bist du doch eine Gefangene. Gefangen in meiner erbärmlichen Welt und deiner Freiheit beraubt. Ich schäme mich zutiefst dafür, das musst du mir glauben.«
Sie legte das Besteck aus der Hand, sah ihn streng an und sagte: »Ich hätte damals Nein sagen können. Ich hätte schon tausend Mal von hier verschwinden können, einfach so und für immer. Ja, es fällt mir schwer, den ganzen Scheiß hier zu ertragen. Das alles zu erleben und täglich deinen Zorn und Zynismus auszuhalten, und an manchen Tagen stehe ich tatsächlich dicht davor, zu gehen und alles hinter mir zu lassen. Aber ich tue es nicht. Ich bin aus freien Stücken hier, es war allein meine Entscheidung gewesen – und zu der stehe ich und ziehe sie durch. Wenn du es mir für den Rest der Zeit etwas leichter machen möchtest, dann hörst du endlich auf mit diesem Gefangenengequatsche – weil ich nämlich sonst vielleicht auf die Idee kommen könnte, dich in einen dunklen Raum zu sperren und ihn jeden Tag nur zu betreten, um dir einen weiteren Knochen zu brechen und mich an deinen Schmerzen aufzugeilen. Ist das bei dir an den beiden entscheidenden Stellen angekommen?«
Mit einem Zeigefinger deutete sie auf ihr Ohr, mit dem anderen auf ihre Stirn.
Er wusste nicht, was er sagen sollte. Auch wenn sie ihn natürlich niemals einsperren und quälen würde, hatte sie Recht. Die ganze Situation war alles andere als leicht für sie, er musste es ihr nicht noch schwerer machen.
»Ja, ist angekommen«, sagte er leise und sah sie um Entschuldigung bittend an.
»Prima«, sagte sie zufrieden. »Dann sind wir uns ja endlich mal einig.«
7.
Es tut mir leid«, sagte er. Er sah sie an, als würde er sie am liebsten in die Arme schließen, doch dieser Gedanke wäre ihm niemals gekommen. Er machte seinen Job seit mehr als drei Jahrzehnten und hatte bereits einige Dutzend dieser Nachrichten überbracht. Er hatte gelernt, es emotional nicht an sich heran zu lassen, ganz gleich wie jung, sympathisch und am Boden zerstört die Patienten waren.
Sie starrte auf ihre im Schoß gefalteten Hände und ihr kam der absurde Gedanke, dass die Fingernägel der Daumen unterschiedlich lang waren, wenn auch nur minimal.
»Möchten Sie ein Glas Wasser?«, fragte er. »Vor Ihnen auf dem Tisch stehen eine Karaffe und ein Glas. Gießen Sie sich gerne Wasser ein.«
Es war keine Unhöflichkeit, dass er das Wasser nicht für sie eingoss. Es war wichtig, dass Menschen nach dem Erhalt einer schockierenden Nachricht einen Energieausgleich erhielten. Selbst die kleinsten selbstausgeführten Handlungen hatten den großen Effekt, dass sie dem Gehirn signalisierten, dass die Kontrolle nicht verloren ging.
Sie antwortete nicht.
Er wusste aus Erfahrung, dass er ihr einen Moment Zeit geben musste. Zeit, die nicht übrig war, aber die er ihr zu schenken hatte. Es war das Mindeste, was er für sie tun konnte – und zugleich das Einzige.
»Finden Sie es gerecht?«, durchbrach sie schließlich die bedrückende Stille. Ihre Stimme war dünn.
Die