Tattoo. Andreas Richter
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Melanie kehrte erst gegen einundzwanzig Uhr zurück. Sie ignorierte Lars und ging direkt in Julis Kinderzimmer. Sie sah, dass ihre Tochter bereits schlief. Anschließend machte sie sich im Badezimmer fertig für die Nacht und ging ohne ein einziges Wort in das Schlafzimmer.
Als Lars zwei Stunden später ins Bett ging, schlief Melanie bereits. Auch er fiel schnell in den Schlaf. An seine Träume während jener Nacht sollte er sich am nächsten Tag nicht erinnern – mit einer Ausnahme: In einem Traum ging er nackt durch den Regen, war am ganzen Körper tätowiert und marschierte durch eine Schneise toter Menschen.
5.
Bereits seit einer Stunde saß Lars im Wartezimmer und blätterte desinteressiert in Zeitschriften. Zwar hatte er den kurzfristigen Termin überhaupt nur deshalb bekommen, weil er Privatpatient war, doch dass er so lange warten musste, nervte ihn gewaltig.
Schließlich war es soweit. Eine Helferin führte Lars in den Behandlungsraum. Er musste kurz warten, dann kam der Hautarzt. Er war kaum älter als Lars, reichte ihm die Hand und fragte routiniert, was er tun könne.
Lars sagte: »Ich möchte Sie bitten, sich meinen linken Oberarm anzusehen und mir zu sagen, um was es sich handelt, was da auf meiner Haut ist.«
»Na, dann zeigen Sie mal her!« Der Arzt deutete auf die Behandlungsliege.
Lars zog Hemd und T-Shirt aus und setzte sich auf die Kante der Liege. Er vermied den Blickkontakt mit dem Arzt und sah stattdessen auf die Wanduhr mit dem Logo eines Pharma-konzerns.
Der Arzt zog den Praxishocker zu sich heran und setzte sich. Er griff unter Lars' linken Oberarm. Zwei Sekunden vergingen, dann ließ er den Arm wieder los und sagte: »Ich entdecke nichts Ungewöhnliches.«
Lars stutzte. »Die Zeichnung, Herr Doktor – sehen Sie sie denn nicht?«
»Doch, selbstverständlich. Ich wusste nicht, dass es darum geht. Was ist damit?«
Lars holte Luft und sagte. »Ich weiß, dass es seltsam klingt, aber bitte sagen Sie mir: Handelt es sich bei der Zeichnung um eine Tätowierung?«
»Nun, das sollten Sie selbst doch am besten wissen.«
Jetzt sah Lars den Arzt an. »Ich weiß es aber nicht. Fragen Sie mich bitte nicht nach dem Grund, sondern sagen Sie es mir einfach. Also, bitte: Ist es eine Tätowierung?«
Der Arzt musterte Lars kritisch, dann strich er mit dem Daumen über die Zeichnung und sagte: »Es ist zweifelsohne eine Tätowierung.«
Obgleich Lars mit dieser Antwort gerechnet hatte, erschrak er leicht. Er holte Luft und fragte: »Sie werden mich vielleicht für verrückt erklären, aber was würden Sie sagen, wie alt die Tätowierung ist?«
Nichts im Gesicht des Arztes verriet, was er dachte. Er betrachte die Tätowierung und sagte: »Die Farben sind sehr kräftig, nicht ausgeblichen. Die Tätowierung dürfte bislang nicht viel Sonnenlicht abbekommen haben. Ich würde sagen, sie ist etwa ein Jahr alt, maximal zwei.«
Lars sah ihn staunend an. »Ein bis zwei Jahre?«
»Ja, in etwa.«
»Kann es ...« – Lars' Stimme drohte wegzubrechen und er räusperte sich rasch – »... sein, dass die Tätowierung jünger ist? Ich meine, wesentlich jünger? Sagen wir ... zwei Tage alt?«
Die Blicke der beiden Männer trafen sich und Lars war sicher, in den Augen des Arztes zu erkennen, dass dieser ihn für komplett übergeschnappt hielt.
»Das ist nicht möglich«, sagte der Arzt betont ruhig. »Beim Tätowieren wird die Haut verletzt und es dauert seine Zeit, bis sie wieder vollständig verheilt ist. Ihre Haut ist in einem tadellosen Zustand, und das wäre sie nicht, wenn sie erst vor wenigen Tagen von der Nadel einer Tätowiermaschine verletzt wurde.«
Lars schloss die Augen und drückte die Hände gegen die Schläfen.
Der Arzt rollte auf dem Hocker ein Stück zurück, legte die Hände in den Schoss und sagte: »Ihr Verhalten irritiert mich, ich muss es Sie einfach fragen: Erinnern Sie sich nicht daran, tätowiert worden zu sein?«
Lars antwortete nicht sofort. Schließlich öffnete er die Augen, sah den Arzt an und sagte: »Ich will diese verdammte Tätowierung nicht haben. Welche Möglichkeiten gibt es, sie entfernen zu lassen?«
»Nun, Herausschneiden und Wegätzen gehören glücklicherweise der Vergangenheit an, heutzutage wird die moderne Lasertechnik angewendet. Das Entfernen von Täto-wierungen mittels Laser ist verhältnismäßig gewebeschonend und vergleichsweise schmerzarm.«
»Erzählen Sie mir, wie es funktioniert – aber bitte frei von Fachchinesisch und so auf den Punkt gebracht, dass ich es auch als Nichtmediziner verstehe.«
Der Arzt schaute kurz verdutzt, dann räusperte er sich und sagte: »Ich werde mein Bestes geben, es so laiengerecht wie möglich darzustellen. Also: In unserer Praxis verwenden wir je nach Farbpigmenten unterschiedliche Laser. Diese Laser arbeiten in verschiedenen Wellenlängenbereichen. So, und nun stellen Sie sich einfach vor, dass das Licht des Lasers die Farbpartikel der Tätowierung Punkt für Punkt verändern. Diese veränderten Farbpartikel werden von den weißen Blutkörperchen erkannt und abtransportiert. Doch das Licht des Lasers ist jetzt verbraucht, so dass es die unmittelbar darunter liegenden, also die tiefer sitzenden, Farbpartikel nicht mehr erreicht. Diese Farbpartikel werden erst bei der darauffolgenden Behandlung verändert, und schon erledigen die fleißigen weißen Blutkörperchen erneut ihren schweren Abtransport-Job. So geht es von Behandlung zu Behandlung weiter, Schicht für Schicht, sozusagen, bis dann schließlich eines Tages die Tätowierung ganz verschwunden ist. Ja, so verhält es sich im Wesentlichen. War das für Sie ausreichend auf den Punkt gebracht?«
Lars nickte vor sich hin.
»Allerdings ist auch die Laserbehandlung kein Spaziergang. Obgleich die Haut zuvor mit einer lidocainhaltigen Salbe eingecremt wird, ist mit Schmerzen zu rechnen. Zudem sind die kleinen Blitze und das Knarren des Lasers für das Gemüt nicht ohne. Nach der Behandlung entstehen zumeist Bläschen, die man nicht öffnen sollte. Da der Großteil der Pigmente nach außen abtransportiert wird, ist es wichtig, den sich nach jeder Behandlung bildenden Wundschorf nicht herunter zu pulen. Sie sehen also, das Ganze ist nicht ohne.«
»Das macht mir nichts aus. Wie lange würde es bei dieser Tätowierung dauern, bis sie fort ist?«
»Nun, darüber entscheiden verschiedene Faktoren. Etwa die Anzahl und die Lage der Farbpartikel in der Haut sowie die Größe der Tätowierung, wie tief sie in der Haut liegt und welche Farbstoffe verwendet wurden. Laientätowierungen erfordern zumeist weniger Behandlungen, doch bei Ihnen handelt es sich ganz offensichtlich um eine professionelle Arbeit. Planen Sie etwa zehn bis zwölf Behandlungen ein.«
Lars schaute verwundert. »So viele? Wann wäre ich damit durch?«
»Nun, rechnen Sie so: Nach jeder Behandlung dauert es bis zu vierzehn Tage, bis der Wundschorf abfällt. Anschließend sollte man der arg strapazierten Haut dann weitere vierzehn bis zwanzig Tage der Erholung gönnen, im Idealfall sogar vier Wochen. Die Haut benötigt diese Regenerationspausen dringend. Zwischen den einzelnen Behandlungen liegen also rund sechs Wochen. Zehn Behandlungen