Mördertränen: Thriller. Alfred Bekker
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Echeveria besaß einen Friseursalon zwei Straßen weiter. Jeden Tag um fast genau 18.00 Uhr ging er in diese Filiale von „Tapas Mexicanas“, um seine Portion Chili zu essen. In unregelmäßigen Abständen sprachen ihn dann Kollegen unseres Field Office dort an. Echeveria war Anfang siebzig, ein alter Mann, der seine Altersversorgung während des letzten Banken-Crashs verloren hatte und darum gezwungen war, seinen Laden so lange weiter zu führen, bis er keine Schere mehr halten konnte.
Vor drei Jahren waren er und seine Frau bei einer Schießerei zwischen den rivalisierenden Gangs Mara 13 und Mara 18 schwer angeschossen worden. Die beiden waren völlig unbeteiligt gewesen. Seitdem humpelte Norman Echeveria. Seine Frau hatte es schlimmer erwischt. Sie war ihren Verletzungen erlegen. Seitdem hatte Echeveria keine Angst mehr. Vor niemandem. Regelmäßig versorgte er uns mit Informationen aus dem Umkreis dieser weltweit operierenden Gangs, die von der FBI-Zentrale in Washington inzwischen als transnationale kriminelle Bedrohung eingestuft wurden. Drogenhandel, Prostitution, Glücksspiel, Waffen, Schutzgeld und illegale Müllentsorgung – alles, womit sich viel Geld verdienen ließ, gehörten zum Geschäftsfeld dieser straff organisierten Gangs, die für ihre Verschwiegenheit, ihre außergewöhnlich brutalen Einstiegsrituale und vor allem ihren kompromisslosen Umgang mit jedem, den sie für einen Verräter hielten, bekannt waren.
Äußerlich waren sie an ihren Tätowierungen erkennbar.
Einer solchen Gang gehörte man sein Leben lang an. Die einzige Möglichkeit des Ausstiegs war der Tod oder das Zeugenschutzprogramm des FBI. Allerdings traute letzterem kaum einer.
Es war ausgesprochen schwierig, verdeckte Ermittler einzuschleusen. Eigentlich kamen dafür nur angeworbene Gang-Mitglieder in Frage, die aussteigen wollten. Aber so etwas war selten – und davon abgesehen hatten die Betroffenen dann zumeist nur noch eine sehr kurze Lebenserwartung, wenn ihr Doppelspiel aufflog. Das Risiko ging kaum jemand ein. Die einzelnen Untergruppen der Gangs bestanden ausschließlich aus Mitgliedern, die in denselben Straßenzügen groß geworden waren und sich oft seit frühester Kindheit kannten. Jemand, der von außen kam, hatte keine Chance, sich ihr Vertrauen zu erwerben. Das brutale Einstiegsritual bestand darin, sich mehrere Minuten lang von allen Gang-Mitgliedern verprügeln zu lassen, ohne sich zu wehren. Für Frauen gab es wahlweise auch die Möglichkeit, sich von mindestens drei Mitgliedern vergewaltigen zu lassen.
Aber das war nur der Einstieg. Richtig dazu gehörte man erst, wenn man sich seine erste Träne verdient hatte – das Zeichen dafür, dass man bereit gewesen war, für die Gang zu töten. Manchmal wurden dafür willkürliche Opfer ausgesucht – aber für den Täter gab es dann kein Zurück mehr. Der erste Mord kettete ihn auf ewig an die Gang. An seine Mitwisser und Komplizen. Wie eine in das Fleisch geritzte Kriegsbemalung trugen sie ihre Tätowierungen und jeder, der sie ansah und einigermaßen Bescheid wusste, wie die Dinge in Spanish Harlem liefen, konnte ihnen ansehen, was sie auf dem Kerbholz hatten. Das verbreitete Angst. Und genau darauf kam es Gangs wie Mara 13 an. Das tätowierte Gesicht eines Mara war nichts anderes als eine deutlich für jedermann sichtbare Drohung.
Die meisten Bewohner der betroffenen Viertel ließen sich einschüchtern und schwiegen. Es häuften sich bei uns im FBI Field Office New York die Fälle, in denen ein Verbrechen auf offener Straße geschah und es nicht einmal jemand wagte, die Kollegen der City Police zu verständigen.
Eine Schwäche hatten die Maras allerdings. Sie waren eitel und gingen häufig zum Friseur. Manche ließen sich den Schädel ganz kahl rasieren, um Platz für Tattoos zu haben, andere bevorzugten Schnitte, bei denen nur ein mehr oder weniger breiter, sehr exakt begrenzter Haarstreifen auf dem Kopf übrig blieb. Beim Friseur unterhielten sich die Marabuntas ziemlich ungehemmt - und einen alten Mann wie Norman Echeveria nahmen sie ohnehin nicht ernst. Sie gingen einfach davon aus, dass er genauso von seiner Furcht in Schach gehalten wurde, die die meisten anderen.
Und so war es wiederholt vorgekommen, dass Echeveria einiges mitbekommen hatte, was für die Ermittlungsarbeit von großem Nutzen gewesen war.
Ich sah auf die Uhr.
„Der kommt nicht mehr“, stellte ich fest.
Mein Kollege Jaden Hecker schob den Teller mit dem Chili ein Stück von sich weg und nahm einen tiefen Schluck Mineralwasser. Ich hatte wenig Mitleid mit ihm. Schließlich hatte ich ihn gewarnt. Das Chili bei „Tapas Mexicanas“ war wirklich extrem scharf.
„Meinst du, wir sollten mal bei seinem Laden vorbeischauen, ob alles in Ordnung ist?“, fragte er.
„Damit würden wir ihn kompromittieren.“
„Ich mache mir Sorgen um ihn. Wenn wir unauffällig bleiben, könnten wir doch mal bei ihm vorbeischauen.“
„Ich weiß nicht, ob das wirklich eine gute Idee ist.“
„Echeveria könnte in Schwierigkeiten sein.“
„Na gut.“
Wir standen auf und verließen das „Tapas Mexicanas“. Unser Dodge stand nur wenige Meter entfernt. Wir stiegen ein und fuhren noch einen Umweg, der sich aufgrund der Einbahnstraßen leider nicht vermeiden ließ, etwa eine Viertelstunde später an Norman Echeverias Friseurgeschäft vorbei – so langsam wie möglich, ohne dabei besonders aufzufallen.
Der Laden war geschlossen. Und zwar offenbar dauerhaft. Die Tür war mit Holzplatten vernagelt, die Fenster blickdicht verhängt und es hing ein Schild mit der Aufschrift „For Sale“ davor.
„Halt mal hier irgendwo an und lass mich raus!“, forderte Jaden. „Dann fahre einmal um den Block und hol mich wieder ab.“
„Aber...“
„Das stinkt doch zum Himmel!“
„Echeveria hat sich ja nicht ausdrücklich mit uns verabredet!“
„Aber dieser Mann führt ein Leben wie ein Uhrwerk! Und jetzt so etwas!“
„Vielleicht will er einfach seinen Lebensabend irgendwo anders genießen, als in Spanish Harlem. Da muss er uns ja nicht unbedingt vorher einweihen, oder?“
„Mir gefällt das trotzdem nicht!“
Ich ließ Jaden am Straßenrand aussteigen und fuhr dann weiter. Während ich eine Runde um den Block drehte, erreichte mich über Handy ein Anruf unseres Field Office, den ich über die Freisprechanlage entgegennahm.
Am Apparat war Mr John D. Kellerman, unser Chef.
„Barry, ich nehme an, Ihr Treffen mit Norman Echeveria ist bereits beendet.“
„Es hat nicht stattgefunden, weil er nicht aufgetaucht ist“, erwiderte ich. „Sein Laden steht überraschenderweise zum Verkauf. Unser Informant scheint in seiner Lebensplanung eine sehr plötzliche Veränderung vorgenommen zu haben.“
„Oh“, entfuhr es unserem Chef. Weitergehend dokumentierte er diese Neuigkeit nicht. Sie war ein einzelnes Puzzleteil in unseren Ermittlungen gegen die Mara Salvatrucha, wie die vollständige Bezeichnung der Mara 13 eigentlich lautete. Wie dieses Puzzleteil einzuordnen war, musste sich erst noch erweisen.
„Ich nehme aber an, dass Sie immer noch in Spanish Harlem sind“, sagte Mr Kellerman dann, nach kurzer Pause. Ich konnte durch die Freisprechanlage hören, wie Mr Kellerman in seinem Büro von jemandem angesprochen wurde und erkannte