Sein Traum von Harmonie. Jürgen Heiducoff
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Eine unhandliche Holztruhe mit einigen Habseligkeiten ist alles, was Marie besitzt. Besonders in Ehren hält sie die kleine vergoldete Bibel und einige Kruzifixe. Das erinnert an ihre strenge katholische Erziehung. Die katholische Kirche war es, die ihr in ihrem unsagbar schweren Leben immer zur Seite stand. Doch im protestantischen Sachsen gibt es nur wenige katholischen Gemeinden. Marie fühlt sich einsam, verlassen und verraten.
In Deutschland entsteht ein neues politisches Umfeld. Neue Strukturen werden gebildet. Marie interessiert all dies nicht. Das Leben hat sie gelehrt, sowieso keinen Einfluss zu haben.
In Sachsen vollzieht sich der Übergang von der sowjetischen Besatzungszone zur DDR. Zwei neue Staaten auf deutschem Boden entstehen. Ihre Heimat ist nun Ausland und nur schwer erreichbar.
Am Alltag ändert sich nichts. Es fehlt an allem, vor allem an Männern. Viele Frauen brauchen für sich und ihre Kinder zuverlässige Versorger. Zuneigung und Liebe spielen bei der Partnerwahl eine untergeordnete Rolle. Die Hoffnungen steigen und fallen mit jedem der immer wieder angekündigten Transporte aus den Kriegsgefangenenlagern. Dutzende Frauen drängen sich an den Gleisen der Haltepunkte der Deutschen Reichsbahn, wenn Transporte eintreffen. Sie hoffen, ihren oder wenigstens einen Mann zu finden. Die Männer sind erschöpft. Enttäuscht gehen die Frauen nach Hause, wenn sie wieder einmal keinen Mann gefunden haben.
Doch dieses Mal lernt Marie den Heimkehrer Fritz kennen. Fritz ist vom Kriegsgefangenenlager gezeichnet und sichtlich gealtert. Marie hingegen wirkt recht ausgeruht. So verschweigt sie ihrem neuen Partner ihr wahres Alter und macht sich gleich mal zehn Jahre jünger. Dieser Vertrauensbruch soll sich später rächen.
Marie zieht in das Haus ihres neuen Schwiegervaters Paul ein. Da ist Platz genug, denn drei seiner weiteren Söhne sind noch nicht wieder heim gekehrt.
Monate später sollen Marie und Fritz Juras Eltern werden. Vorher wird die evangelisch – katholische Mischehe begründet, damit das mit Jura seine Richtigkeit hat. Schwiegervater Paul ist es egal, ob geheiratet wird. Aber die Leute ...
Jura erblickt im eiskalten Januar mit der Beihilfe einer resoluten Hebamme im ungeheizten Schlafzimmer des verfallenen Hauses des Vaters von Fritz das Licht der Welt. Vater Fritz und Großvater Paul rennen auf Kommando der Hebamme mit Schüsseln kalten und warmen Wassers aufgeregt hin und her. Das neue Leben ist da, schreit die Anwesenden an und wird, wenn auch unbeholfen, so doch sorgsam geschützt und behütet.
Die Friedenslinde – Symbol der Harmonie
Jura wächst am Dorfrand in Haus, Hof und fruchtbarem Garten, umsorgt von seiner Mutter Marie und Opa Paul auf. Inmitten des Gartens steht eine stattliche Sommerlinde. Es ist die Friedenslinde.
In den letzten Kriegswochen nutzt Paul die Wirren der Ereignisse und das Chaos, um sich von der Truppe zu entfernen. Mit viel Glück gelingt es ihm, sich durchzuschlagen und unerkannt in sein Haus zurück zu kehren. Da hat er sich nachts in den Garten geschlichen und eine Linde – die
„Friedenslinde“ gepflanzt. Sorgsam hat er sie gehegt und gepflegt. Sie und der Duft ihrer Blüten begleiten Jura bis ins Jugendalter. Er träumt davon, dass später ebenfalls Linden in seinem Garten stehen werden. Das ist einer seiner frühen Träume. Großvater Paul betrachtet Linden als eine Quelle der Harmonie, die das Leben braucht.
Ausgrenzung und Erziehung in einer deutsch dominierten Umgebung
Jura geniest seine Kindheit in der individuellen kleinen Welt von Haus, Hof und Garten. Er muss noch nicht einmal in den Kindergarten gehen. Das lässt ihn die Züge eines Einzelgängers annehmen. Vater Fritz sorgt für den bescheidenen Unterhalt der kleinen Familie. Er vertritt die Auffassung, Jura soll möglichst keinen Kontakt zu anderen Kindern und zum Dorfleben haben. Er soll geschützt werden. Aber eben das verstärkt die Individualisierung der sich entwickelnden Persönlichkeit des Heranwachsenden. Harmonie und Glück enden an der Grundstücksgrenze. Bereits im Dorf herrscht ein anderer Wind.
Die Heiducoffs sind seit Generationen ausgegrenzt worden. Die Angehörigen der Großfamilie kamen Mitte des 19. Jahrhunderts als Vertriebene aus Bulgarien über Russland nach Sachsen. In Dresden, später in Leipzig und dann auf dem Dorf waren sie isoliert. Sie passten weder in das kaiserlich, patriotisch, nationale, noch in das nationalsozialistische Umfeld der angestammten Deutschen. Durch ihren Namen, durch ihr Äußeres und durch ihr Verhalten waren und sind genügend Ausgrenzungsmerkmale gegeben. Jura selbst nimmt diese belastete Verhältnis zwischen den Heiducoffs und dem deutsch geprägten Umfeld erst spät wahr. Die Ausgrenzung erfolgt nicht aggressiv, sondern eher unterschwellig. Sie erzeugt eine Antipathie gegen die Öffentlichkeit und gegen Kollektive.
Als Juras Schuleintritt naht, sträubt und windet er sich. Es dauert Wochen, bis Jura Interesse an der alten Dorfschule empfindet. Schulgebäude, Schulhof und Pfarrhaus bilden eine Einheit unmittelbar neben der Dorfkirche. An der Christenlehre nimmt er auf Anraten seines Großvaters Paul nicht teil. Der hatte zwei Weltkriege und die Bombardierung Dresdens erleben müssen und vertritt die Ansicht, dass, wenn es einen lieben Gott geben würde, dieser diese Verbrechen verhindert hätte. So begründet er seinen Atheismus.
Jura findet den Unterricht langweilig, aber er mag die naturbezogenen Wanderungen mit einigen der Grundschullehrer.
Das Zerbrechen der Familie überschattet die glückliche Kindheit
Zu Hause herrschen seit Wochen schlechte Stimmung und Streit. Vater Fritz trennt sich von Marie und der Familie. Die „Versorgungsehe“ nach Kriegsende mit der zehn Jahre älteren Marie erwies sich nun als überholt. Fritz hatte eine jüngere Frau gefunden. Mutter Marie verbietet Jura den Kontakt zu seinem Vater. Diese Umstände reißen ein tiefes Loch in Juras Leben. Er hat doch seinen Vater auch sehr lieb. Sehnsucht nach künftiger Harmonie kommen auf. Er träumt davon, dass sich Vater und Mutter wieder versöhnen könnten. Doch die Realität ist eine andere.
Jura mutiert zum Herrscher über Haus, Hof und Garten. Er genießt alle Freizügigkeiten, kann seine Ideen verwirklichen und beginnt mit den Jahren Schuppen und Speicher umzubauen. Er findet Reliquien aus der Nazizeit. Da sind Bücher und Akten , die den Nationalsozialismus verherrlichen. Sie stammen von den vier Söhnen Pauls. Einer ist in Russland gefallen, der andere bislang vermisst und der dritte hat sich in den Westen abgesetzt. Er war Offizier des Heeres und wollte den Russen nicht begegnen. Der Grund dafür wird immer ein Geheimnis bleiben. Der jüngste Sohn ist Fritz – Juras Vater.
Jura erfährt, dass Paul, ein anerkannter Arbeiterveteran, lange Jahre keinen Kontakt zu seinen Söhnen, allesamt stramme Nazis, haben durfte. Seine Frau habe dies den Kindern strengstens verboten.
Doch Jura lässt kein Mitleid mit Opa aufkommen, sondern Stolz auf ihn. Jura lernt von Großvaters Vorsätzen: „Nur der Kampf hat Sinn im Leben“ oder „Tue recht und scheue niemand, meide das Böse, das ist Verstand“. Diese verewigt Opa auch in seinen Eintragungen in Juras Poesiealbum.
Bei alledem: Jura bleibt ein individueller Träumer. Er träumt von Harmonie. Dies ist auch eine Art Flucht vor den Enttäuschungen der zerbrochenen Familie.
Jura entwickelt – nicht ohne Zutun seines Opas - Sympathien für die Arbeiterbewegung und besonders für August Bebel. Gleichzeitig empfindet Jura starken Hass gegen alles, was an den Faschismus erinnert.
Opa setzt sich im Gemeinderat mit dem Wunsch durch, die Borngasse, in der sich sein Haus befindet, in August-Bebel-Straße umzubenennen.