Sein Traum von Harmonie. Jürgen Heiducoff
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Anfang der 1960er Jahre soll es zu einer nächsten Erweiterung für Juras Weltbildes kommen. Es geht noch viel weiter per Eisenbahn – ins Rheinland. Da lebt in Koblenz die Schwester von Mutter.
Jura, der die bisherige Bescheidenheit des Lebens in Sachsen und in Böhmen kennt, ist beeindruckt und begeistert von der Konsumwelt des Westens. Am 13. August 1961 wird die Grenze geschlossen. Die Verwandten raten Mutter zu bleiben. Sie hat Anspruch auf Kriegswitwenrente und braucht nicht zu arbeiten. Eine kleine Wohnung für sie und Jura wird ihr versprochen. Doch Mutter lehnt ab und meint, in einem Jahr sei der Spuk vorbei und sie würde wieder kommen. Die Geschichte verläuft anders.
Jura gewinnt nach der Rückkehr in den Osten an Selbstbewusstsein und Zuversicht. Im Nachhinein stellt er fest, dass ihn die bunte Reklamewelt in Koblenz überfordert hat. Das einfache Leben und seine Regeln im Osten sind ihm vertraut und er ist dieses Leben gewohnt. Es hat ihn geprägt, in einem Haushalt ohne Auto, ohne Fernsehgerät, ohne Kühlschrank, Waschmaschine oder Staubsauger zu leben. Die Nachbarn versammeln sich gelegentlich zum gemeinsamen Fernsehen bei denen, die bereits über ein Gerät verfügen. Die Mangelwirtschaft zwingt zum Zusammenhalt zwischen den Menschen. Bei Schlachtfesten, beim Federnschließen oder beim Tabakschneiden und Zigarrendrehen finden sich alle Anwohner der Gasse regelmäßig zusammen. Dies dient auch der Information und dem gemeinsamen Lösen von Problemen. Selbst Konflikten wird so ausgewichen. Ein durch die Mangelwirtschaft bedingter Ansatz zu harmonischem Zusammenleben. Erst später wird im Rückblick klar, dass durch steigenden Wohlstand und inhomogene Besitzverhältnisse sowie Neid diese Gemeinschaft zerstört wurde. Auch ökologisch hat dies extreme Auswirkungen. So kommt es mit zunehmenden materiellen Anschaffungen zu mehr Abfall und Umweltbelastungen. Der Verpackungswahn entsteht. Vorbei die Zeit, als wenig weggeworfen wird und alles noch irgend eine Verwendung findet.
Nachts hört jeder im Dorf das Quietschen der Eimerketten und Schaufelräder der Bagger, die sich immer weiter an den Dorfrand heran fressen. Braunkohle ist mehr als nur Heizmaterial oder Rohstoff. Sie ist die Lebensgrundlage der Menschen.
Großvater versucht dem Jungen die Grundregeln des Kapitalismus zu erklären. Des einen Überfluss ergibt sich aus dem Mangel vieler anderer! Und abstrakter: Des einen Wohlstand ergibt sich aus den Schulden der anderen! Diese Ausbeutung ist unehrlich und zutiefst ungerecht. Er lehrt den Jungen, ehrliche Leute zu achten. Unaufrichtigkeit, Ungerechtigkeit und Ausbeutung anderer Menschen gehören verurteilt. Es gebe auch keine Entschuldigung für die großen Einkommensunterschiede und für die soziale Besserstellung der Arbeitgeber gegenüber den Arbeitnehmern in der Marktwirtschaft des Westens. Großvater tritt für die Änderung dieser Verhältnisse ein. Er erkennt aber auch Tendenzen der Restaurierung des Kapitalismus in der DDR und verurteilt diese entschieden. Da würde eine „neue Oberschicht gezüchtet“, die den Kontakt zur Basis verloren habe, grollt er des öfteren. Dies sei nicht im Interesse Bebels und Liebknechts. Einmal im Monat besucht ein junger Genosse aus der SED – Kreisleitung den alten Paul, um ihn die 100 Mark Ehrenrente der Partei auszuzahlen. Er kommt mit dem Motorrad. Noch bevor er sich die Lederjacke ausgezogen hat muss er die lautstarke Kritik des Veteranen an der Politik der Partei anhören. Kleinlaut versucht sich der Genosse jedes Mal der Diskussion zu entziehen. Er hat ohnehin die schlechteren Argumente.
Jura erlebt diese Auseinandersetzungen regelmäßig. Aber er hat andere Sorgen. Er fürchtet, dass Mutter einen Mann kennen lernen könnte, der ihm die Stellung in Haus und Hof streitig machen würde. Als Marie diesen oder jenen Freund trifft, diese auch das Haus besuchen, versucht Jura alles, um sie zu vertreiben. Er präpariert ihre Fahrräder und zeigt sich als Rüpel, der er im Grunde gar nicht ist.
Seine Reise- und Ausflugslust befriedigt Jura weiterhin mit Radtouren. Immer weiter führen sie den Jungen – vorbei an Schlössern und Burgen, zu Heimatmuseen und Ausstellungen und auch weit über die Grenzen Sachsens hinaus. Bis er eines Tages zu Ostern weiter ausholt und über Nächte wegbleibt, um die Wartburg in Eisenach zu erreichen. Mutter informiert die Dorfpolizei.
Es kommt zu einigen unangenehmen Erziehungsmaßnahmen.
Doch dann geht Jura sogar noch weiter. Er begeistert Freunde für künftige gemeinsame Ausflüge und Vorhaben. Sie führen ihn und beide seiner Freunde durch das Erzgebirge. Sie übernachten in Jugendherbergen. Später fahren sie mit Erlaubnis der Eltern in die Tschechoslowakei.
Jura erzielt in der Schule gute Noten und genießt Autorität auch als Reiseführer. Er kennt die Heimat zum Teil besser als mancher Lehrer. So darf er mehrtägige Radtouren mit einer oder zwei Klassen anführen.
Nach der Beendigung der Grundschule und der Jugendweihe besucht er im Nachbarort die Mittelschule. Jura ist als Kind begeisterungsfähig und impulsiv. Da ist aber immer auch eine Mischung aus Neugier und Misstrauen mit im Spiel. Über allem allerdings bleibt der Traum von Harmonie im Kleinen wie im Großen.
Er kauft sich ein Rennrad. Damit wird er noch weitere Touren fahren können.
Auch die Mittelschule fällt ihm leicht und nebenher absolviert er im Reparaturwerk für Tagebautechnik eine berufliche Grundausbildung zum Elektromonteur. Zwei Wochen Unterricht und eine Woche Berufsausbildung in der Sozialistischen Betriebsschule stehen an. Er bewirbt sich dort für eine weitergehende Ausbildung bis zur Hochschulreife.
Gefühlte, aber spät erkannte Ausgrenzung und antideutscher Sarkasmus
In Dorf und Schule fällt Jura mit zunehmendem Alter immer mehr auf, dass er und seine Familie auf eine besondere Art ausgegrenzt werden. Das missfällt ihm und es verstärkt die Tendenz, sich abzusondern und vom Kollektivtrend auszuschließen. Dafür gibt es mehrere Ursachen, die er erst allmählich erkennt. Das sind sowohl Abgrenzungsbestrebungen der Leute gegenüber den Heiducoff`'schen Eigenbrötlern als auch die sich daraus ergebenden Verhaltensmuster. In Dorf und Region dominieren Bauernfamilien mit langer deutscher Tradition. Die meisten haben deutsche Wurzeln, was auch in den Familiennamen zu erkennen ist. Sie bestimmen Meinung und Stimmung im Dorf. Bewusst oder unbewusst leben sie ihren Stolz auf die nationale Tradition ihrer Höfe und Familien aus. Die Klein- und Mittelbauern haben sich durch den Fleiß ihrer Familien Besitz geschaffen. Der Kurs der DDR in Richtung Sozialismus missfällt ihnen. Sie sträuben sich gegen die Kollektivierung ihrer Felder und Höfe. Sie empfinden das als Enteignung und Aufteilung ihres Familienbesitzes. Jura missfällt es, für diese Bauern für einen Minilohn Rüben zu hacken oder Kartoffeln zu sammeln.
Mit der Industrialisierung Westsachsens im 19. Jahrhundert zog es Familien aus den angrenzenden slawischen Lebensräumen an, die Arbeit und Brot in den Zechen oder als Knechte bei den Bauern suchten. Sie werden bis heute ausgegrenzt. Noch schlechter erging es den Heiducoffs, deren Großfamilie als Kriegsflüchtlinge vor den Türken von Bulgarien über Russland nach Sachsen kamen. Sie mussten sich als Bettler oder Bedienstete einflussreicher Russen durchs Leben schlagen. Auch äußerlich unterscheiden sie sich durch ihre prägende große Nase von den durchschnittlichen Deutschen. Ihr Name wird als „Heidekopf“ oder „Heidekopp“ verunglimpft. Unbestritten sind dies Nachwirkungen patriotisch nationalistischer und rassistischer Tendenzen aus der Kaiser- und Nazizeit. Fremde finden keinen echten Anschluss in der von Deutschen dominierten Dorfgemeinschaft. Dies verstärkt die bestehende Zurückhaltung.
Diese führen aber nicht dazu, die Heiducoffs in eine Opferrolle zu zwingen. Psychologisch hat sich in Gegenwirkung Abscheu gegen alles überbetont Deutsche herausgebildet. Ein Heiducoff wird von der deutschen Mehrheit stets besonders beobachtet und beurteilt. Er muss sich immer wieder behaupten und durch besondere Leistungen hervortun. Langfristig bildet sich bei Jura eine Art antideutscher Sarkasmus heraus. Dieser prägt ihn zeitlebens. Vorgesetzte mit typisch deutschen Namen wie Kaiser, Ludwig, Heger, Voigt, Spindler oder Kasdorf kann Jura nicht ernst nehmen. In der Gegenwart verspürt Jura, dass sich Sarkasmus in Hass umwandelt, wenn er Namen wie Höcke