Dich kriegen wir weich. Joachim Widmann
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Ein sowjetischer Militärzug mit Gefängniswagen brachte Hemmerling bei Frankfurt (Oder) über die Ostgrenze, durch Polen, zunächst nach Brest-Litowsk, wo er einige Tage lang in einem Gefängnis untergebracht wurde.
Die nächste Station war Moskau, die Lubjanka, eins der Gefängnisse und zugleich die Zentrale des sowjetischen Geheimdienstes.
Nach zwei Tagen wurde er mit rund 50 anderen Häftlingen auf einen Viehwaggon getrieben. Gegen die Januarkälte gab es einen kleinen Ofen im Waggon „eine Art Gulaschkanone“. Die Reise ging nach Nordosten – Endstation Workuta, das Bergbau- und Stahlrevier, in dem Zehntausende Deportierte und Häftlinge aus dem sowjetischen Machtbereich, Politische und Kriminelle, arbeiten mußten. „In dem Lager, in das ich kam, gab es unter anderem Polen, Russen, Litauer, Letten Österreicher und viele Deutsche.“
1945/46 war die Deportation deutscher Verurteilter der Militärtribunale gang und gäbe gewesen. Gegen Ende der 40er Jahre wurde mehr und mehr differenziert zwischen schweren und weniger schweren Fällen. Nur die schweren mußten noch die Deportation in die Sowjetunion fürchten. In den 50er Jahren wurden solche Verurteilte deportiert, die eine besonders große „soziale Gefahr“ darstelltenxxi. Wie er dazu kam, als besonders gefährlich eingestuft zu werden, ist Hemmerling bis heute unerklärlich.
Nach einigen Wochen Quarantäne wurde Hemmerling zur Arbeit eingeteilt, erst in der Holzverarbeitung, die die Stempel zum Stützen der Steinkohlestollen herstellte, schließlich unter Tage.
Die Sicherheitsvorkehrungen waren jämmerlich. Unfälle waren an der Tagesordnung, und auch der mittlerweile 29jährige konnte eines Tages einer unkontrolliert rollenden Lore nicht ausweichen. „Die Lore rollte mir über den Fuß. Alles war gebrochen.“
Von einem polnischen Arzt, der selbst Häftling war, notdürftig zusammengeflickt, hielt man ihn einige Wochen nach dem Unfall für nicht mehr in der Lage, im Schacht zu arbeiten. „Ich wurde zum Außendienst oberhalb der Grube eingeteilt. Wir haben Granit gebrochen, um ein Hochplateau für den Bau eines Kraftwerks vorzubereiten“. Was an dieser Arbeit leichter für ihn gewesen sein soll als der Kohlebergbau, ahnt Hemmerling bis heute nicht: „Wir sind unglaublich geschindert worden.“
Zwölf Stunden täglich wurde pausenlos gearbeitet. Zu Essen gab es nur morgens und abends in den einfachen Baracken des Lagers, das kilometerweit von den Arbeitsplätzen der Häftlinge entfernt lag – 150 Mann pro Baracke, im Lager waren 4000, und es war ein Lager von vielen. „Die Verpflegung war ganz einseitig: Brotsuppe und trockener Fisch.“ Viele hätten nicht überlebt, sagt Hemmerling: „Man war zum Hungertod verurteilt, und wer nicht auf diesem Weg in den Himmel kam, kam durch Schikanen um.“
Schikanen waren die Politischen nicht allein durch die Wachmannschaften ausgesetzt: Das Regiment führten Kriminelle, die das Lager fest im Griff hatten. Sie organisierten die Verteilung von Nahrung und Feuerholz, wußten sich mittels Gewalt und mafioser Strukturen stets Vorteile zu beschaffen.
Einem Litauer, ein Krimineller, paßte es beim Steinebrechen nicht, daß sich Hemmerling die leichtere Schaufel gegriffen hatte. Der Mann schlug zu, als Hemmerling ihm die Schaufel nicht überließ. Hemmerling büßte alle Schneidezähne ein und konnte Schlimmerem entgehen, weil sich ein Freund auf den Litauer stürzte, der später nie wieder Ärger machte. „Das muß unter den Augen der Wachen passiert sein. Aber alles war mit Stacheldraht umzäunt, und eine Flucht wäre sowieso sinnlos gewesen. Um Workuta herum gab es nichts als menschenleere Weite. Die Aufmerksamkeit der Wachen ließ darum auch mal nach.“ Das Regiment der Kriminellen im Lager war ohnehin zwar nicht legal, „aber es lag doch im Interesse der Wachen.“
1950 wurde das Lager Sachsenhausen aufgelöst, der deutsche Strafvollzug übernahm die „Politischen“ von den Sowjets. Insgesamt 10.513 Menschenxxii. Anneliese Fricke kam ins Frauenzuchthaus Hoheneck: Eine von 1.300 nach verschiedenen Entlassungswellen im Knast gebliebenen Frauen. „Wir wären im ersten halben Jahr zu Fuß nach Sachsenhausen zurückgegangen. Wir waren in deutsche Hände gekommen und mit der Illusion da hingegangen, es könne ja nur besser werden.“
Doch sie bestätigt die Erinnerungen vieler ihrer Leidensgenossen: Die Deutschen waren schlimmer als die Sowjets, wenigstens in der ersten Zeit. „Hundertprozentige“ einerseits, die ihre „Pflicht“ besonders genau nahmen, andererseits „rohe Leute, die nun Gewalt auf 1.300 Frauen ausüben konnten.“ Im Lager Sachsenhausen hätten die Häftlinge zudem eine gewisse Bewegungsfreiheit gehabt und Zivilkleidung tragen können, in Hoheneck habe es nur die Zelle gegeben, Häftlingskleidung und noch schlechtere Verpflegung als in dem Lager bei Oranienburg: „Das erste halbe Jahr war das Schlimmste, dann glich es sich allmählich normalem Strafvollzug an.“
Das Gefühl, ungerechter Strafe und Willkür ausgesetzt zu sein, Zorn und Trauer über die verlorenen Jahre – all dies ertrugen die Häftlinge gemeinsam. Sie standen einander bei. Und alle zehrten von der Hoffnung, daß die pauschalen 25 Jahre nie und nimmer abgesessen werden müßten, wovon selbst sowjetische Wachen andeutungsweise aus Erfahrung gesprochen hatten.
Die mutigen Gnadengesuche und Briefe ihres Vaters Walter Fricke unter anderem an DDR-Justizministerin Hilde Benjamin, politische Parteien, den Berliner Rundfunk, ja sogar an Stalin, fruchteten indessen nichts.
1954 wurden im Rahmen einer ersten „Großamnestie“ Zehntausende entlassen. „Es gab kein System. 90 Prozent waren ,25jährige‘ wie ich. Aber die Sache endete, und ich war nicht dabei. Es war sehr, sehr schlimm, als alle weg waren. Es konnte ja Jahre dauern bis zum nächsten Mal!“
Doch plötzlich und völlig unerwartet kamen dann 1955 aus Hoheneck noch 35 „25jährige“ frei – eine davon Anneliese Fricke. Die mittlerweile 28jährige kehrte nach Frankfurt zu ihrer Familie zurück. „Da gehöre ich zu einer absoluten Minderheit, bestimmt 90 Prozent von uns sind in den Westen.“
Zum Bleiben gab es für sie einen Grund: die Familie. „Wir haben immer wieder diskutiert, ob wir gehen sollen. Für uns war klar: Alle oder keiner. 1961 war mit dem Mauerbau die Entscheidung gefallen.“
Für Erhard Hemmerling dämmerte im Frühjahr 1953 Hoffnung auf. Mit vielen Mithäftlingen wurde er in Personenwaggons nach Ostpreußen gebracht. Stalin war tot, Berija, der gefürchtete Geheimdienstler, gestürzt, so daß Tauwetter für „Politische“ angebrochen war. Doch die DDR weigerte sich, die Häftlinge wiederaufzunehmen. Im Lande gärte es. Versorgungsengpässe und die Erhöhung der Arbeitsnormen führten schließlich zum Aufstand vom 17. Juni, der mit Hilfe der Sowjetarmee erstickt wurde.
Walter Ulbricht holte zu einem Befreiungsschlag aus, der teils vermeintliche, teils ernstzunehmende Reformkräfte in Staat und Partei traf, unter den Prominenteren Rudolf Herrnstatt, Herr über die Parteipresse der SED, und – ausgerechnet – Stasiminister Zaisser, der seinen Dienst angeblich der Partei entfremdet hatte. Tausende einfacher Bürger verschwanden in den Gefängnissen: Als vom West-Berliner „Rundfunk im amerikanischen Sektor“ „gesteuerte“ Agenten, als Aufrührer, wegen staatsfeindlicher Hetze. Da möge man sich nicht auch noch mit den Deportierten abgeben, war die Position der DDR-Führung.
Das Lager in Ostpreußen wurde vergleichsweise human geführt. Die Hungerverpflegung hatte ein Ende, die ärztliche Versorgung war relativ gut. Doch da war die Ungewißheit: Alle hatten schon im Mai gedacht, es gehe nach Hause, und nun die Warterei. Im Dezember war es schließlich soweit: Hemmerling wurde nach Fürstenwalde gebracht, erhielt einen schlechtsitzenden Anzug, denn Zivilkleider besaß er nicht mehr, und 50 Mark. Keinen Entlassungsschein, gar nichts – als wäre alles nie gewesen.
Seine