Marie Antoinette. Stefan Zweig
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Mit ihrer ersten Reise schon hat Marie Antoinette Paris erobert. Aber gleichzeitig erobert auch Paris Marie Antoinette. Von diesem Tage an ist sie dieser Stadt verfallen. Oft, und bald allzuoft, fährt sie in die verlockende, in die an Vergnügungen unerschöpfliche Stadt; bald in fürstlichem Aufzug mit allen ihren Hofdamen bei Tag, bald wieder nachts mit kleinem intimem Gefolge, um die Theater, die Bälle zu besuchen und sich privat auf verfängliche oder auch unverfängliche Art auszutollen. Jetzt erst, da sie sich losgekoppelt hat von der gleichförmigen Tageseinteilung des Hofkalenders, wird dieses Halbkind, dieses wilde Mädchen gewahr, wie gräßlich langweilig doch der hundertfenstrige Marmor- und Steinkasten von Versailles mit seinen Hofknicksen und Kabalen und seinen steifleinenen Festen, wie mopsig diese mokanten und muffigen Tanten gewesen, mit denen sie morgens bei der Messe und abends beim Strickstrumpf sitzen mußte. Gespenstig mumienhaft und künstlich scheint ihr diese ganze Courhalterei ohne Heiterkeit und Freiheit mit den gräßlich gespreizten Attitüden, dieses ewige Menuett mit den ewig gleichen Figuren, denselben abgezirkelten Bewegungen und dem immer gleichen Entsetzen bei dem geringsten Fauxpas im Vergleich zu der ungezwungen flutenden Lebensfülle von Paris. Ihr ist, als sei sie aus einem Treibhaus in freie Luft entronnen. Hier, im Gewirr der Riesenstadt, kann man verschwinden und untertauchen, dem unerbittlichen Uhrzeiger der Tageseinteilung entrinnen und mit dem Zufall spielen, hier kann man sich selber leben und genießen, indessen man dort nur für den Spiegel lebt. So rollt jetzt regelmäßig zweimal, dreimal in der Woche eine Karosse mit heiter geschmückten Frauen nachts nach Paris, um erst im Morgengrauen wieder heimzukehren.
Aber was sieht Marie Antoinette von Paris? In den ersten Tagen besichtigt sie aus Neugier noch allerhand Sehenswürdigkeiten, die Museen, die großen Geschäfte, sie besucht ein Volksfest und einmal sogar eine Gemäldeausstellung. Aber damit ist für die nächsten zwanzig Jahre ihr Bildungsbedürfnis innerhalb von Paris vollkommen erschöpft. Sonst widmet sie sich ausschließlich den Stätten der Unterhaltung, sie fährt regelmäßig in die Oper, die französische Comédie, die italienische Commedia, auf Bälle, Redouten, sie besucht die Spielsäle, also genau das »Paris at night, Paris city of pleasure« der reichen Amerikanerinnen von heute. Am meisten verlocken sie die Opernbälle, denn Maskenfreiheit ist die einzige, die ihr, der Gefangenen ihrer Stellung, erlaubt ist. Mit der Larve über den Augen kann sich eine Frau einigen Scherz gestatten, der einer Madame la Dauphine sonst unmöglich wäre. Man kann fremde Kavaliere – der öde, unfähige Gatte schläft zu Hause – für ein paar Minuten zu munterm Gespräch heranholen, man kann einen entzückenden jungen schwedischen Grafen, der Fersen heißt, freimütig ansprechen und mit ihm, von der Larve gedeckt, plaudern, bis die Hofdamen einen wieder in die Loge holen; man kann tanzen, den heißen, geschmeidigen Körper bis zur Müdigkeit entspannen: hier darf man sorglos lachen, ach, man kann sich in Paris so herrlich ausleben! Nie aber betritt sie in all den Jahren ein bürgerliches Haus, nie wohnt sie einer Sitzung des Parlaments oder der Akademie bei, nie besucht sie ein Hospital, einen Markt, nicht ein einziges Mal versucht sie, etwas von dem täglichen Leben ihres Volkes zu erfahren. Immer bleibt Marie Antoinette bei diesen Pariser Seitensprüngen in dem engen glitzernden Kreis des mondänen Vergnügens und meint dem guten Volk, dem »bon peuple«, schon genug getan zu haben, wenn sie ihm lächelnd und lässig seinen begeisterten Gruß erwidert; und siehe, immer wieder steht es entzückt in Scharen Spalier, und ebenso jubeln Adel und reiche Bürgerschaft, wenn sie abends im Theater an die Brüstung der Rampe tritt. Immer und überall fühlt die junge Frau ihren muntern Müßiggang, ihre lauten Lustpartieen gebilligt, abends, wenn sie in die Stadt fährt und die Leute gerade müde von der Arbeit kommen, und ebenso morgens um sechs Uhr, wenn das »Volk« wieder an seine Arbeit geht. Was kann an diesem Übermut, an diesem lockern Sichlebenlassen also unrecht sein? Im Ungestüm ihrer törichten Jugend hält Marie Antoinette die ganze Welt für vergnügt und sorglos, weil sie selbst sorglos und glücklich ist. Aber während sie in ihrer Ahnungslosigkeit glaubt, dem Hof abzusagen und sich in Paris mit ihren Lustfahrten volkstümlich zu machen, fährt sie in Wirklichkeit mit ihrer gläsern klirrenden, ihrer luxuriösen und gefederten Karosse zwanzig Jahre lang an dem wirklichen Volk und an dem wirklichen Paris vorbei.
Der mächtige Eindruck des Pariser Empfangs hat etwas in Marie Antoinette verwandelt. Immer bestärkt fremde Bewunderung das eigene Selbstgefühl: eine junge Frau, der Tausende bestätigt haben, daß sie schön ist, wird sofort schöner durch dieses Wissen um ihre Schönheit; so auch dieses verschüchterte Mädchen, das sich in Versailles bisher immer als Fremde und Überflüssige fühlte. Jetzt aber löscht ein junger, von sich selbst überraschter Stolz in ihrem Wesen völlig alle Unsicherheit und Scheu aus; verschwunden ist die Fünfzehnjährige, die, begönnert und bevormundet von Botschafter und Beichtiger, von Tanten und Verwandten, durch die Zimmer schlich und sich vor jeder Hofdame duckte. Jetzt erlernt Marie Antoinette die langgeforderte Hoheitshaltung mit einem Ruck, sie strafft sich von innen; aufrecht schreitet sie wie an Untergebenen graziös beschwingten Schrittes an allen Damen des Hofes vorbei. Alles wird anders in ihr. Die Frau, die Persönlichkeit beginnt durchzubrechen, sogar die Schrift verwandelt sich mit einem Schlage: bisher ungelenk, mit riesigen kindischen Lettern, drängt sie sich jetzt frauenhaft nervös in zierliche Billette zusammen. Allerdings, die Ungeduld, die Fahrigkeit, das Abgerissene und Unbedachte ihres Wesens wird sich nie ganz aus ihrer Schrift verlieren, dafür aber beginnt im Ausdruck eine gewisse Selbständigkeit. Jetzt wäre dies brennende, vom Gefühl pulsender Jugend ganz erfüllte Mädchen reif, ein persönliches Leben zu leben, jemand zu lieben. Jedoch die Politik hat sie an diesen plumpen Ehemann, der noch kein Mann ist, geschmiedet, und da Marie Antoinette ihr Herz nicht entdeckt hat und keinen anderen weiß, um ihn zu lieben, ist diese Achtzehnjährige in sich selbst verliebt. Das süße Gift der Schmeichelei strömt ihr heiß in die Adern. Je mehr man sie bewundert, um so mehr will sie sich bewundert sehen, und, noch ehe Herrscherin durch das Gesetz, will sie als Frau durch ihre Anmut sich den Hof, die Stadt und das Reich untertänig machen. Sobald sich eine Kraft einmal selbstbewußt erkannt hat, fühlt sie Verlangen, sich zu erproben.
Die erste Probe der jungen Frau, ob sie andern, ob sie dem Hof und der Stadt ihren Willen aufzwingen kann, gilt glücklicherweise – fast möchte man sagen: ausnahmsweise – einem guten Anlaß. Der Meister Gluck hat seine »Iphigenie« vollendet und möchte sie in Paris aufgeführt sehen. Für den sehr musikalischen Wiener Hof gilt sein Erfolg als eine Art Ehrensache, und Maria Theresia, Kaunitz, Joseph II. erwarten von der Dauphine, daß sie ihm den Weg ebnen wird. Nun war das Unterscheidungsvermögen Marie Antoinettes bei künstlerischen Werten keineswegs hervorragend, weder in Musik noch in Malerei noch in Literatur. Sie hatte einen gewissen natürlichen Geschmack, aber keinen selbständig prüfenden, sondern nur jenen lässig neugierigen, der gehorsam jede neue Mode mitmacht und sich für alles gesellschaftlich Anerkannte mit kurzem Strohfeuerinteresse begeistert. Zu tieferem Verständnis fehlte Marie Antoinette, die nie ein Buch zu Ende las und jedem eindringlichen Gespräch auszuweichen wußte, die unerläßliche Charaktervorbedingung wirklichen Unterscheidens: Ernst, Ehrfurcht, Mühe und Nachdenklichkeit. Kunst war für sie nie mehr als ein Zierat des Lebens, ein Vergnügen zwischen andern Vergnügungen, sie kannte bloß den mühelosen, also nie den wirklichen Kunstgenuß. Um Musik hatte sie sich, wie um alles, lässig bemüht, die Klavierstunden bei Meister Gluck in Wien hatten sie nicht weit gebracht, sie dilettierte auf dem Clavecin so wie als Schauspielerin auf der Bühne und als Sängerin im intimen Kreise. Das Neue und Grandiose der »Iphigenie« vorahnend zu begreifen, war sie, die ihren Landsmann Mozart in Paris überhaupt nicht bemerkte, selbstverständlich völlig unfähig. Aber Maria Theresia hatte ihr Gluck ans Herz gelegt, und sie empfindet eine wirklich amüsierte Neigung zu diesem scheingrimmigen, breiten und jovialen Mann, außerdem aber will sie, gerade weil sich in Paris die italienische und französische Oper mit den heimtückischsten Kabalen gegen den »Barbaren« wehrt, die Gelegenheit nützen, einmal ihre Macht zu zeigen.