Das Geld. Emile Zola
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Aber da fiel ihm eine verworrene Geschichte ein, Saccards Vergangenheit, die ihm ein Makler namens Larsonneau, der heute Millionär war, erzählt hatte: wie Saccard am Tage nach dem Staatsstreich in Paris auftauchte, um die im Entstehen begriffene Macht seines Bruders Rougon auszubeuten, sein anfängliches Elend in den düsteren Straßen des alten Quartier Latin35 und dann sein rascher Aufstieg dank einer zwielichtigen Heirat, nachdem er das Glück gehabt hatte, seine Frau begraben zu können. Bei diesem schwierigen Anfang damals hatte er seinen Namen Rougon für Saccard eingetauscht, indem er einfach den Namen seiner ersten Frau, die Sicardot hieß, abwandelte.
»Ja, ja, Sicardot, ich erinnere mich genau«, murmelte Busch. »Er hat die Stirn besessen, die Wechsel mit dem Namen seiner Frau zu unterschreiben. Zweifellos hatten die beiden diesen Namen angegeben, als sie in der Rue de la Harpe abstiegen. Und dann traf der Kerl alle möglichen Vorsichtsmaßregeln und ist beim geringsten Anzeichen umgezogen ... Er war also nicht nur hinter dem Geld her, er hat auch noch die Mädchen auf den Treppen umgelegt! Das war dumm, das wird ihm noch Scherereien machen!«
»Pst, pst!« versetzte die Méchain. »Wir haben ihn in der Hand, und man kann wohl sagen, daß es einen lieben Gott gibt. So werde ich nun endlich belohnt für alles, was ich für diesen armen kleinen Victor getan habe, den ich trotz allem sehr gern habe, obwohl er unverbesserlich ist.«
Sie strahlte, und ihre kleinen Augen funkelten in dem schmelzenden Fett ihres Gesichts.
Aber nach der Aufregung über diese lange gesuchte Lösung, die ihm der Zufall jetzt brachte, wurde Busch beim weiteren Überlegen wieder kühl und schüttelte den Kopf. Zweifellos schien ihm Saccard, obwohl er im Augenblick ruiniert war, noch gut zum Rupfen. Man hätte auch auf einen weniger vorteilhaften Vater stoßen können. Bloß würde Saccard sich nichts gefallen lassen, er konnte fürchterlich zubeißen. Und was dann? Er wußte bestimmt selbst nicht, daß er einen Sohn hatte, er konnte es trotz dieser außerordentlichen Ähnlichkeit, die die Méchain so verblüffte, leugnen. Außerdem war er ein zweites Mal Witwer und damit frei, er schuldete niemandem Rechenschaft über seine Vergangenheit; selbst wenn er den Kleinen anerkannte, war aus keiner Furcht und keiner Drohung gegen ihn Vorteil zu ziehen. Und aus seiner Vaterschaft nur die sechshundert Francs für die Wechsel zu schlagen war wirklich zu jämmerlich, da lohnte es nicht die Mühe, daß einem der Zufall so wunderbar zu Hilfe kam. Nein, nein! Er mußte nachdenken, mußte das hegen und pflegen, das Mittel finden, die Ernte in voller Reife einzubringen.
»Wir wollen nichts übereilen«, schloß Busch, »übrigens liegt er jetzt am Boden; lassen wir ihm die Zeit, wieder auf die Beine zu kommen.«
Und bevor er die Méchain verabschiedete, prüfte er mit ihr noch die kleinen Geschäfte, mit denen er sie beauftragt hatte: eine junge Frau, die ihren Schmuck für einen Geliebten verpfändet hatte, ein Schwiegersohn, dessen Schulden seine Schwiegermutter und gleichzeitige Geliebte bezahlen würde, wenn man es richtig anzupacken verstand, und schließlich die heikelsten Spielarten in der so verwickelten und schwierigen Beitreibung der Schuldforderungen.
Als Saccard das Nebenzimmer betrat, verharrte er einige Sekunden, geblendet von dem grellen Sonnenlicht, das durch das gardinenlose Fenster fiel. Das mit einer blaßblauen Blümchentapete ausgeschlagene Zimmer war ganz kahl: nur ein kleines eisernes Bettgestell stand in einer Ecke und in der Mitte ein Tisch aus Fichtenholz mit zwei Strohstühlen. An der linken Zwischenwand dienten roh gehobelte Bretter als Bücherschrank, sie waren mit Büchern, Broschüren, Zeitungen und allen möglichen Papieren überladen. Aber in dieser Höhe breitete das helle Tageslicht eine Art jugendlicher Heiterkeit, unschuldigen frischen Lachens über die Kahlheit des Zimmers. Buschs Bruder Sigismond, ein bartloser junger Mann von fünfunddreißig Jahren mit langem, spärlichem kastanienbraunem Haar, saß am Tisch. Er stützte die breite gebuckelte Stirn in die magere Hand und war so in ein Manuskript vertieft, daß er nicht einmal den Kopf wandte, weil er nicht gehört hatte, wie die Tür aufging.
Dieser Sigismond war ein kluger Kopf. Er hatte die deutschen Universitäten besucht und sprach außer Französisch, seiner Muttersprache, Deutsch, Englisch und Russisch. 1849 hatte er in Köln Karl Marx kennengelernt und war der beliebteste Redakteur an seiner »Neuen Rheinischen Zeitung«36 geworden; von diesem Augenblick an stand seine Religion fest, er verkündete voll glühenden Glaubens den Sozialismus, denn er hatte sich mit Leib und Seele der Idee einer nahe bevorstehenden sozialen Erneuerung verschrieben, die den Armen und Erniedrigten das Glück bringen sollte. Seitdem sein Meister, aus Deutschland verbannt und gezwungen, nach den Junitagen37 auch Paris zu verlassen, in London lebte, dort schrieb und sich bemühte, die Partei zu organisieren, vegetierte Sigismond, in seine Träume versponnen, dahin und kümmerte sich derart wenig um sein leibliches Wohlergehen, daß er sicher verhungert wäre, wenn nicht sein Bruder ihn in der Rue Feydeau nahe der Börse aufgenommen und auf den Gedanken gebracht hätte, seine Sprachkenntnisse zu nutzen und sich als Übersetzer niederzulassen. Dieser ältere Bruder vergötterte seinen jüngeren Bruder mit wahrhaft mütterlicher Leidenschaft; ein grausamer Wolf für die Schuldner und sehr wohl imstande, einem Menschen, der schon verblutete, noch zehn Sous zu stehlen, war er sogleich zu Tränen gerührt und besaß die leidenschaftliche, umsichtige zarte Fürsorge einer Frau, sobald es sich um diesen zerstreuten großen Jungen handelte, der ein Kind geblieben war. Er hatte ihm das schöne Zimmer zur Straße gegeben, er bediente ihn wie ein Kindermädchen, führte ihren absonderlichen Haushalt, kehrte aus, machte die Betten und kümmerte sich um das Essen, das zweimal am Tag aus einer kleinen Gastwirtschaft in der Nachbarschaft heraufgebracht wurde. Er, der immer beschäftigt war und den Kopf mit tausenderlei Geschäften voll hatte, duldete den Müßiggang seines Bruders, denn mit dem übersetzen ging es nicht voran, persönliche Arbeiten hinderten ihn daran; er verbot ihm sogar zu arbeiten, da er über ein böses Hüsteln beunruhigt war. Und trotz seiner hartherzigen Liebe zum Geld, seiner mörderischen Raffgier, die in der Eroberung des Geldes den einzigen Daseinszweck erblickte, lächelte er nachsichtig über die Theorien des Revolutionärs, überließ ihm das Kapital, wie man einem Bengel ein Spielzeug läßt, auch auf die Gefahr hin, sehen zu müssen, wie er es zerbricht.
Sigismond seinerseits ahnte nicht einmal, was sein Bruder im Nebenzimmer trieb. Er wußte nichts von diesem schrecklichen Geschäft mit den entwerteten Papieren und dem Kauf von Schuldforderungen, er lebte in höheren Sphären, in einem alles beherrschenden Traum von Gerechtigkeit. Der Gedanke an Barmherzigkeit verletzte ihn, brachte ihn außer sich: Barmherzigkeit war das Almosen, die durch Güte geheiligte Ungleichheit, er aber ließ nur die Gerechtigkeit gelten, die zurückeroberten, in unverbrüchlichen Grundsätzen der neuen Gesellschaftsordnung verankerten Rechte eines jeden einzelnen. Im Gefolge von Karl Marx, mit dem er in ständigem Briefwechsel stand, verbrachte er seine Tage damit, diese Ordnung zu studieren, unaufhörlich die Gesellschaft von morgen auf dem Papier zu verändern und zu verbessern, riesige Bogen mit Zahlen zu bedecken und auf der Grundlage der Wissenschaft das komplizierte Gerüst für das universelle Glück aufzubauen. Er nahm den einen das Kapital weg, um es unter die anderen aufzuteilen, er bewegte die Milliarden hin und her, verschob mit einem Federstrich das Vermögen der Welt, und das in dieser kahlen Stube, ohne eine andere Leidenschaft als seinen Traum, ohne jegliches Bedürfnis nach Genuß; er lebte so bescheiden, daß sein Bruder erst böse werden mußte, damit er einen Schluck Wein trank und etwas Fleisch aß. Er, der sich bei der Arbeit umbrachte und von nichts lebte, wollte, daß die Arbeit eines jeden Menschen seinen Kräften angemessen sei und die Befriedigung seiner Wünsche gewährleisten solle. Losgelöst vom irdischen Leben, sehr sanft und sehr rein, begeisterte er sich wie ein wahrer Weiser nur am Studium. Seit dem letzten Herbst hatte sich sein Husten immer mehr verschlimmert, die Schwindsucht verheerte ihn, ohne daß er es überhaupt nur zur Kenntnis nahm und sich schonte.
Doch als Saccard eine Bewegung machte, hob Sigismond erstaunt die großen verschwommenen Augen und wunderte sich, obwohl er den Besucher kannte.
»Ich möchte mir nur einen Brief übersetzen lassen.«
Die