Anna Karenina | Krieg und Frieden. Leo Tolstoi
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Jetzt nach der Enttäuschung, die ihm seine wirtschaftliche Tätigkeit gebracht hatte, freute sich Ljewin auf ein Zusammensein mit Swijaschski ganz besonders. Ganz abgesehen davon, daß der Anblick dieser glücklichen, mit sich und aller Welt zufriedenen Täubchen und ihres wohleingerichteten Nestes ihn immer in vergnügte Stimmung versetzte, verlangte es ihn jetzt, wo er sich mit seinem eigenen Leben so unzufrieden fühlte, in Swijaschskis Seele jene geheimnisvolle Eigenschaft zu ergründen, die diesem im Leben eine solche Klarheit, Bestimmtheit und Heiterkeit verlieh. Außerdem wußte Ljewin, daß er bei Swijaschskis einige Gutsbesitzer aus der Nachbarschaft treffen werde, und es war ihm jetzt höchst interessant, jene wirtschaftlichen Gespräche über die Ernte, über das Mieten von Arbeitern und so weiter zu führen und mit anzuhören, die, wie Ljewin wußte, nach dem herkömmlichen Urteile als etwas sehr Niedriges galten, die ihm aber jetzt als etwas sehr Wichtiges erschienen. ›Mag sein, daß das zur Zeit der Leibeigenschaft nicht wichtig war oder in England heutzutage nicht wichtig ist. In beiden Fällen jedoch handelt es sich um feststehende Verhältnisse; aber bei uns jetzt, wo das alles eine Umwälzung durchgemacht hat und eben erst in der Neugestaltung begriffen ist, bei uns jetzt ist die Frage, wie sich die Verhältnisse gestalten werden, die einzig wichtige Frage in Rußland‹, dachte Ljewin.
Es stellte sich heraus, daß die Jagd schlechter war, als Ljewin erwartet hatte. Der Sumpf war ausgetrocknet, und Schnepfen gab es so gut wie gar keine. Er streifte den ganzen Tag umher und brachte nur drei Stück nach Hause; dafür aber brachte er, wie immer von der Jagd, einen ausgezeichneten Appetit mit sowie eine vortreffliche Stimmung und jenen angeregten Geisteszustand, der sich bei ihm stets als Folge starker körperlicher Bewegung einstellte. Auch auf der Jagd, in Augenblicken, da er anscheinend an gar nichts dachte, war ihm immer wieder jener alte Bauer mit seiner Familie eingefallen, und dieses ihm vorschwebende Bild hatte nicht nur seine Aufmerksamkeit in Anspruch genommen, sondern ihm auch gewissermaßen die Lösung einer damit im Zusammenhang stehenden Frage nahegelegt.
Am Abend waren beim Teetrinken noch zwei andere Gutsbesitzer zugegen, die zur Besprechung irgendwelcher Vormundschaftssachen gekommen waren, und es kam nun eben jenes interessante Gespräch in Gang, das Ljewin erwartet hatte.
Ljewin saß am Teetisch neben der Hausfrau und mußte sich mit ihr und mit der Schwägerin, die ihm gegenübersaß, unterhalten. Die Hausfrau war von kleiner Statur, blond, mit einem runden Gesichte, das fortwährend von einem lustigen Lächeln über und über aufstrahlte und seine hübschen Grübchen zeigte. Ljewin gab sich Mühe, durch sie zur Lösung des ihn so sehr interessierenden Rätsels zu gelangen, das ihr Mann für ihn bildete; aber er hatte nicht die volle Freiheit des Denkens, weil er eine peinliche Verlegenheit empfand. Diese rührte daher, daß die ihm gegenübersitzende Schwägerin ein eigenartiges Kleid trug, das sie, wie es ihm schien, besonders für ihn angezogen hatte, mit einem eigenartigen trapezförmigen Ausschnitt auf der weißen Brust; obgleich diese Brust sehr weiß war oder gerade weil sie sehr weiß war, sah sich Ljewin durch diesen viereckigen Ausschnitt der Freiheit des Denkens beraubt. Er hatte die wahrscheinlich irrtümliche Vorstellung, daß dieser Ausschnitt mit Rücksicht auf ihn gemacht sei, und hielt sich nicht für berechtigt, danach hinzusehen, und bemühte sich, es zu vermeiden; aber er hatte die Empfindung, als treffe ihn schon deswegen eine Schuld, weil der Ausschnitt überhaupt gemacht war. Es kam ihm vor, als betrüge er jemanden, als müsse er etwas zu seiner Rechtfertigung sagen, aber als sei dies doch schlechterdings nicht tunlich; und deswegen errötete er fortwährend und war unruhig und verlegen. Seine Verlegenheit teilte sich auch der hübschen Schwägerin mit. Aber die Hausfrau schien dies nicht zu bemerken und zog diese geflissentlich ins Gespräch.
»Sie sagen«, fuhr die Hausfrau in dem begonnenen Gespräche fort, »daß meinen Mann nichts Russisches interessiere. Aber das Gegenteil ist richtig; er ist ja im Auslande meist sehr vergnügt, aber doch nie so wie hier. Hier fühlt er sich in seinem Fahrwasser. Er hat soviel zu tun, und er besitzt die Gabe, sich für alles zu interessieren. In unserer Schule sind Sie wohl noch nicht gewesen?«
»Ich habe sie von außen gesehen ... Nicht wahr, das mit Efeu bewachsene Häuschen?«
»Ja, die Schule ist Nastjas Domäne«, sagte sie, auf ihre Schwester weisend.
»Unterrichten Sie selbst?« fragte Ljewin und gab sich dabei Mühe, an dem Ausschnitt vorbeizusehen; aber er merkte, daß, er mochte in jener Richtung blicken, wohin er wollte, er immer den Ausschnitt sehen werde.
»Ja, ich habe selbst unterrichtet und unterrichte auch jetzt noch; aber wir haben auch eine ausgezeichnete Lehrerin. Auch Turnunterricht haben wir eingeführt.«
»Nein, danke schön, ich möchte keinen Tee mehr«, sagte Ljewin und stand errötend auf; er fühlte zwar, daß er damit eine Unhöflichkeit beging, war aber nicht imstande, dieses Gespräch weiter fortzusetzen. »Ich höre da ein sehr interessantes Gespräch«, fügte er hinzu und ging nach dem andern Ende des Tisches hin, wo der Hausherr mit den beiden Gutsbesitzern saß. Swijaschski wandte dem Tische die eine Seite seines Körpers zu; den einen Ellbogen hatte er auf den Tisch gelegt und drehte mit der Hand dieses Armes seine Tasse immer herum; mit der andern Hand faßte er seinen Bart zusammen, hob ihn zur Nase in die Höhe und ließ ihn wieder los, gerade wie wenn er daran röche. Mit seinen blitzenden, schwarzen Augen sah er dem sprechenden und sich dabei ereifernden Gutsbesitzer, einem Manne mit grauem Schnurrbarte, gerade ins Gesicht und ergötzte sich augenscheinlich an dessen Reden. Der Gutsbesitzer schalt über das Landvolk. Ljewin sah deutlich, daß Swijaschski auf die Klagen des Gutsbesitzers eine Antwort bereit hatte, die dessen Darlegungen mit einem Schlage zunichte gemacht hätte, daß er aber mit Rücksicht auf seine Stellung als Wirt und Adelsmarschall diese Antwort unterdrückte und mit innerer Heiterkeit die komischen Auslassungen des Gutsbesitzers mit anhörte.
Der Gutsbesitzer mit dem grauen Schnurrbart war offenbar ein hartnäckiger Verteidiger der Leibeigenschaft, ein eingefleischter Landbewohner und leidenschaftlicher Landwirt. Kennzeichen dafür erblickte Ljewin sowohl in seiner Kleidung, einem altmodischen, abgescheuerten Oberrock, der seinem Träger sichtlich etwas Ungewohntes war, wie auch in seinen klugen, streng blickenden Augen und in seiner bündigen, rein russischen Ausdrucksweise und in dem befehlenden Tone, den er offenbar durch lange Gewohnheit angenommen hatte, und an den entschiedenen Bewegungen der großen, schönen, von der Sonne verbrannten Hände mit einem alten Trauringe am Goldfinger.
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»Wenn es mir nur nicht leid täte, alles, was ich mir eingerichtet habe, aufzugeben – es steckt eine gehörige Menge Arbeit darin –, so würde ich die ganze Geschichte hinwerfen, alles verkaufen und ins Ausland reisen, wie unser Nikolai Iwanowitsch hier ... um ›Die schöne Helena‹ zu hören«, sagte der Gutsbesitzer mit einem angenehmen Lächeln, das seinem klugen, alten Gesichte einen hellen Schein verlieh.
»Aber Sie geben es doch nicht auf«, erwiderte Nikolai Iwanowitsch Swijaschski, »folglich muß doch ein Vorteil dabei sein.«
»Der einzige Vorteil besteht darin, daß ich in einem altererbten Hause wohne, das ich mir weder gekauft noch gemietet habe. Und dann hofft man doch immer noch, daß das Volk endlich einmal zur Vernunft kommt. Aber so, wie es jetzt ist – es ist kaum zu glauben, diese Trunksucht, diese Liederlichkeit! ... Alle sind sie infolge der Wirtschaftsteilungen auf den Hund gekommen; da ist kein Pferd, keine Kuh zu finden. So ein Bauer krepiert beinah vor Hunger; aber nun nehmen Sie den Menschen einmal als Arbeiter an: zuerst verdirbt er Ihnen alles mögliche, und dann verklagt er Sie noch beim Friedensrichter.«
»Sie können ihn ja Ihrerseits auch beim Friedensrichter verklagen«, bemerkte Swijaschski.
»Ich soll ihn verklagen? Um keinen Preis! Das gibt ein Gerede, so daß man von der