Anna Karenina | Krieg und Frieden. Leo Tolstoi
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Alexei Alexandrowitschs seelische Verwirrung hatte sich immer mehr gesteigert und jetzt einen solchen Grad erreicht, daß er bereits aufgehört hatte, gegen sie anzukämpfen; aber plötzlich fühlte er, daß das, was er für eine seelische Verwirrung gehalten hatte, im Gegenteil ein wohliger Seelenzustand war, der ihm auf einmal eine neue Glücksempfindung bescherte, wie er sie vorher noch nie kennengelernt hatte. Er überlegte nicht erst, daß jenes christliche Gebot, das er sein ganzes Leben lang zu befolgen sich vorgenommen habe, ihm befehle, zu verzeihen und seine Feinde zu lieben; aber ein freudiges Gefühl der Liebe und der Verzeihung für seine Feinde erfüllte seine Seele. Er fiel auf die Knie, legte seinen Kopf auf ihr Handgelenk, dessen glühende Hitze er durch den Jackenärmel hindurch fühlte, und schluchzte wie ein kleines Kind. Sie umfaßte sein kahles Haupt, rückte näher an ihn heran und richtete ihre Augen stolz und triumphierend nach oben.
»Da ist er, ich habe es ja gewußt! Jetzt lebt alle wohl, lebt wohl! ... Da sind sie wiedergekommen; warum gehen sie nicht fort? ... So nehmt doch diese Pelze von mir weg!«
Der Arzt nahm ihre Hände von dem Kopfe ihres Mannes weg, drückte die Kranke behutsam auf das Kissen zurück und deckte sie bis an die Schultern zu. Gehorsam ließ sie sich rücklings hinlegen und schaute mit strahlendem Blicke vor sich hin.
»Vergiß das eine nicht, daß ich weiter nichts wollte als deine Verzeihung; weiter will ich nichts ... Aber er, warum kommt er nicht?« fragte sie und wandte sich nach der Tür hin an Wronski. »Komm her, komm her! Gib ihm die Hand!«
Wronski trat an den Rand des Bettes und bedeckte, als er Anna erblickte, wieder sein Gesicht mit den Händen.
»Nimm die Hände vom Gesicht! Sieh ihn an! Er ist ein Heiliger!« sagte sie. »So nimm doch die Hände weg, nimm doch die Hände vom Gesicht!« rief sie heftig. »Alexei Alexandrowitsch, nimm ihm die Hände vom Gesicht! Ich will sein Gesicht sehen!«
Alexei Alexandrowitsch ergriff Wronskis Hände und zog sie ihm vom Gesicht fort, das von Schmerz und Scham furchtbar entstellt war.
»Gib ihm die Hand! Verzeihe ihm!«
Alexei Alexandrowitsch reichte ihm die Hand, ohne die Tränen zurückhalten zu wollen, die ihm aus den Augen strömten.
»Gott sei Dank, Gott sei Dank!« flüsterte sie. »Nun ist alles in Ordnung. Zieht mir nur noch die Beine ein wenig gerade! So, ja, so ist es schön. Wie geschmacklos diese Blumen gezeichnet sind; sie sehen gar nicht aus wie Veilchen«, sprach sie dann weiter, auf die Tapete weisend. »Mein Gott, mein Gott! Wann wird das ein Ende haben? Gebt mir doch Morphium! Doktor geben Sie mir doch Morphium! O mein Gott, mein Gott!«
Sie warf sich im Bette hin und her.
Der Hausarzt und die hinzugezogenen Ärzte hatten sich dahin ausgesprochen, es liege Kindbettfieber vor, das in neunundneunzig Fällen unter hundert tödlich verlaufe. Den ganzen Tag hielt die Fieberhitze, das Phantasieren und die Bewußtlosigkeit an. Um Mitternacht lag die Kranke gefühllos da, und der Puls hatte fast ganz aufgehört.
Jeden Augenblick erwartete man das Ende.
Wronski war nach Hause gefahren, kam aber am Morgen wieder, um nachzufragen, und Alexei Alexandrowitsch, der ihm im Vorzimmer entgegenkam, sagte zu ihm: »Bleiben Sie; sie wird vielleicht nach Ihnen fragen«, und führte ihn selbst in das Wohnzimmer seiner Frau. Am Morgen begann wieder die Aufgeregtheit und Lebhaftigkeit, das hastige Denken und Reden, und dieser Zustand endete dann wieder mit Bewußtlosigkeit. Am dritten Tage wiederholte sich derselbe Hergang, und die Ärzte erklärten, es sei jetzt etwas Hoffnung vorhanden. An diesem Tage trat Alexei Alexandrowitsch in Annas Wohnzimmer, in dem Wronski saß, machte die Tür zu und setzte sich ihm gegenüber.
»Alexei Alexandrowitsch«, begann Wronski, der fühlte, daß jetzt die Aussprache bevorstehe, »ich bin nicht imstande zu reden, nicht imstande zu denken. Schonen Sie mich! Wie schwer Ihnen auch ums Herz sein mag, glauben Sie mir, mein Zustand ist noch furchtbarer.«
Er wollte aufstehen. Aber Alexei Alexandrowitsch ergriff ihn bei der Hand und sagte:
»Ich bitte Sie, mich anzuhören; es ist unumgänglich notwendig. Ich muß Ihnen meine Gefühle darlegen, die, die mich bisher in meinem Handeln geleitet haben, und die, von denen ich mich in Zukunft werde leiten lassen, damit Sie sich über mich nicht im Irrtum befinden. Sie wissen, daß ich mich zur Scheidung entschlossen und diese ganze Angelegenheit sogar schon in die Wege geleitet hatte. Ich verhehle Ihnen nicht, daß ich anfänglich unentschlossen war und seelisch schwer litt; ich gestehe Ihnen, daß mich der Gedanke nicht losließ, mich an Ihnen und an ihr zu rächen. Als ich das Telegramm erhielt, fuhr ich noch mit denselben Gefühlen hierher, ja, ich muß noch mehr sagen: ich wünschte ihren Tod. Aber ...«, er schwieg ein Weilchen, unschlüssig, ob er ihm das, was er jetzt empfand, aufdecken solle oder nicht. »Aber da sah ich sie wieder und habe ihr verziehen. Und aus der seligen Empfindung beim Verzeihen habe ich gelernt, was meine Pflicht ist. Ich habe ihr völlig verziehen. Ich will auch die andere Backe hinhalten; ich will auch den Rock hingeben, wenn man mir den Mantel nimmt. Ich bitte Gott nur um das eine, daß er mir die Seligkeit des Verzeihens nicht nehmen möge!«
Die Tränen standen ihm in den Augen, und ihr heller, ruhiger Blick überraschte Wronski.
»Das ist jetzt meine Lage. Und nun können Sie mich in den Schmutz treten und mich zum Gespött der Welt machen: ich werde sie nicht verlassen und Ihnen nie ein Wort des Vorwurfs sagen«, fuhr Alexei Alexandrowitsch fort: »Meine Pflicht ist mir klar vorgezeichnet: ich muß mit ihr zusammenbleiben, und ich werde es tun. Sollte sie wünschen, Sie zu sehen, so werde ich Sie es wissen lassen; aber jetzt, möchte ich meinen, wird es das beste sein, wenn Sie sich entfernen.«
Er stand auf; vor Schluchzen konnte er nicht weiterreden. Wronski erhob sich gleichfalls und blickte ihn, ohne sich gerade zu richten, in gebeugter Haltung von unten her an. Ein volles Verständnis hatte er für Alexei Alexandrowitschs Empfindungen nicht. Aber so viel fühlte er doch, daß in dieser Weltanschauung etwas Hohes, für ihn geradezu Unerreichbares lag.
18
Nach diesem Gespräche mit Alexei Alexandrowitsch trat Wronski vor das Tor des Kareninschen Hauses hinaus, blieb dort stehen und sammelte mit Mühe seine Gedanken, um zu wissen, wo er sei und wohin er nun gehen oder fahren solle. Er fühlte sich beschämt, erniedrigt, schuldig und der Möglichkeit beraubt, seine Demütigung abzuwaschen. Er fühlte sich aus dem Geleise herausgedrängt, in dem er sich bisher so stolz und leicht vorwärts bewegt hatte. Alle die Gewohnheiten und Grundsätze seines Lebens, die ihm so sicher und fest erschienen waren, hatten sich als falsch und unbrauchbar erwiesen. Der betrogene Gatte, den er sich bisher als ein klägliches Wesen, als ein zufälliges, einigermaßen lächerliches Hindernis seines Glückes vorgestellt hatte, war plötzlich von ihr selbst herbeigerufen und zu einer ehrfurchtgebietenden Höhe hinaufgehoben worden, und dieser Gatte erschien auf dieser Höhe nicht als ein schlechter, unwahrhaftiger, lächerlicher Mensch, sondern als ein guter, offener und edler. Dieser Erkenntnis konnte Wronski sich nicht verschließen. Die Rollen waren plötzlich