Anna Karenina | Krieg und Frieden. Leo Tolstoi
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Der Fehler, den Alexei Alexandrowitsch dadurch begangen hatte, daß er damals, als er sich auf das Wiedersehen mit seiner Frau vorbereitete, nicht auch die Möglichkeit in Erwägung gezogen hatte, daß ihre Reue aufrichtig sein könne und er ihr verzeihen und sie nicht sterben werde, dieser Fehler wurde ihm als ein solcher zwei Monate nach seiner Rückkehr aus Moskau in seinem ganzen Umfange kenntlich. Aber dieser von ihm begangene Fehler war nicht nur daraus entsprungen, daß er diese Möglichkeit nicht mit erwogen hatte, sondern auch daher, daß er bis zu diesem Wiedersehen mit seiner todkranken Frau sein eigenes Herz nicht gekannt hatte. Am Krankenbette seiner Frau hatte er sich zum ersten Male in seinem Leben willig jenem Gefühle mitleidiger Rührung überlassen, das die Leiden anderer Menschen bei ihm hervorriefen und dessen er sich bisher als einer nachteiligen Schwäche geschämt hatte; und das Mitleid mit ihr und die Reue darüber, daß er ihren Tod gewünscht hatte, und ganz besonders die Seligkeit des Vergebens hatten bewirkt, daß er auf einmal nicht nur eine Linderung seiner Leiden verspürte, sondern auch eine seelische Ruhe empfand, wie er sie früher nie gekannt hatte. Er war auf einmal zu der Einsicht gelangt, daß gerade das, was die Quelle seiner Leiden gewesen, die Quelle seiner seelischen Freude geworden war. Die Frage, die ihm unlösbar erschienen war, als er richtete, verdammte und haßte, war nun, wo er verzieh und liebte, einfach und klargeworden.
Er hatte seiner Frau verziehen und sie bemitleidet, gerührt durch ihr Leiden und durch ihre Reue. Er hatte auch Wronski vergeben und Mitleid mit ihm gehabt, besonders als Gerüchte über dessen verzweifelte Tat zu ihm gelangt waren. Auch seinen Sohn bedauerte er jetzt mehr als früher und machte sich Vorwürfe darüber, daß er sich ehemals zu wenig um ihn gekümmert hatte. Aber für das neugeborene kleine Mädchen hegte er ein ganz besonderes Gefühl nicht nur des Mitleides, sondern geradezu der Zärtlichkeit. Anfangs hatte er sich nur aus Mitleid um diese neugeborene schwächliche Kleine gekümmert, die nicht seine Tochter war und die, da sie während der Krankheit der Mutter nicht die gehörige Pflege hatte, wahrscheinlich gestorben wäre, wenn er nicht für sie gesorgt hätte – und er hatte selbst nicht gemerkt, wie lieb er das Kindchen gewann. Mehrmals täglich pflegte er in das Kinderzimmer zu gehen und sich dort längere Zeit aufzuhalten, so daß die Amme und die Kinderfrau, die zuerst eine Scheu vor ihm gehabt hatten, sich allmählich an ihn gewöhnten. Manchmal betrachtete er eine halbe Stunde lang das mit flaumigem Haarwuchs bedeckte Köpfchen und das gelbrote, faltige Gesichtchen des schlafenden Kindes und verfolgte die Bewegungen der sich runzelnden Stirn und der weichen, dicken Händchen mit den eingekrümmten Fingerchen, wie sie mit dem Handrücken die Äuglein und den Nasensattel rieben. Besonders in solchen Augenblicken fühlte Alexei Alexandrowitsch sich völlig ruhig und in seelischem Gleichgewichte und sah in seiner Lage nichts Ungewöhnliches und nichts, was einer Änderung bedurft hätte.
Aber je mehr die Zeit vorrückte, um so klarer sah er ein, daß man ihn in dieser Lage nicht werde verharren lassen, mochte sie ihm persönlich jetzt auch noch so natürlich erscheinen. Er fühlte, daß außer der rein sittlichen Kraft, von der seine Seele sich leiten ließ, noch eine andere, gröbere, ebenso mächtige oder noch mächtigere Kraft obwaltete, die seinem Leben die Richtung gab, und daß diese Kraft ihm jene stille Ruhe, die ihm so lieb war, nicht lange belassen werde. Er fühlte, daß ihn alle Leute wie mit einer verwunderten Frage anblickten, ihn nicht verstanden und irgendwelchen Schritt von ihm erwarteten. Ganz besonders stark empfand er die Unnatürlichkeit und Unhaltbarkeit seines Verhältnisses zu seiner Frau.
Als die weiche Stimmung vorüber war, welche die Nähe des Todes bei ihr hervorgerufen hatte, merkte Alexei Alexandrowitsch immer deutlicher, daß Anna sich vor ihm fürchtete, sich durch seine Gegenwart belästigt fühlte und ihm nicht gerade in die Augen sehen konnte. Es war, als ob sie ihm etwas sagen wollte und sich doch nicht dazu entschließen könnte und als ob auch sie in dem Vorgefühl, daß ihr Verhältnis so nicht fortdauern könne, irgendeinen Schritt von seiner Seite erwartete.
Ende Februar erkrankte Annas neugeborenes Töchterchen, das gleichfalls den Namen Anna erhalten hatte. Alexei Alexandrowitsch war am Morgen im Kinderzimmer gewesen, hatte angeordnet, daß der Arzt gerufen werden sollte, und war dann nach dem Ministerium gefahren. Als er mit seinen Dienstgeschäften dort fertig war, kehrte er zwischen drei und vier Uhr nach Hause zurück. Im Vorzimmer erblickte er einen schöngewachsenen Lakaien in reich mit Tressen besetzter Livree, mit einem Umhang von Bärenfell; über dem Arme hielt er einen weißen Damenpelzmantel von amerikanischem Hundefell.
»Wer ist hier?« fragte Alexei Alexandrowitsch.
»Die Fürstin Jelisaweta Fedorowna Twerskaja«, antwortete der Lakai, wie es Alexei Alexandrowitsch schien, mit einem leisen Lächeln.
In dieser ganzen schweren Zeit hatte Alexei Alexandrowitsch die Beobachtung gemacht, daß seine Bekannten aus der vornehmen Gesellschaft, namentlich die Damen, ein außerordentlich lebhaftes Inte resse für ihn und für seine Frau an den Tag legten. Er hatte bei all diesen Bekannten eine nur mühsam verhehlte Freude über irgend etwas bemerkt, ebendieselbe Freude, die er in den Augen des Rechtsanwaltes wahrgenommen hatte und jetzt in den Augen des Lakaien sah. Alle schienen so vergnügt zu sein, wie wenn sie an einer Hochzeitsfeier teilnähmen. Sobald die Leute ihn sahen, erkundigten sie sich mit kaum unterdrückter Freude nach Annas Befinden.
Durch die Anwesenheit der Fürstin Twerskaja fühlte Alexei Alexandrowitsch sich unangenehm berührt, sowohl wegen der Erinnerungen, die sich für ihn an ihre Person knüpften, wie auch weil er sie überhaupt nicht leiden konnte; daher begab er sich geradeswegs nach den Zimmern der Kinder. Im ersten Kinderzimmer kniete Sergei auf einem Stuhle, hatte sich mit der Brust über den Tisch gelegt und zeichnete etwas, wobei er vergnügt redete. Die Engländerin, die während Annas Krankheit an die Stelle der Französin getreten war, saß mit einer zierlichen Häkelei neben dem Knaben; sie stand eilig auf, knickste und zupfte Sergei, daß er seinen Vater begrüßen sollte.
Alexei Alexandrowitsch strich seinem Sohne freundlich mit der Hand über das Haar, beantwortete die Frage der Gouvernante nach dem Befinden seiner Frau und erkundigte sich dann, was der Arzt über das Baby gesagt habe.
»Der Doktor hat gesagt, es sei nichts Gefährliches, und hat Wannenbäder verordnet, gnädiger Herr.«
»Aber sie hat doch immer Schmerzen«, erwiderte Alexei Alexandrowitsch, indem er nach dem Schreien des Kindes im Nachbarzimmer hinhorchte.
»Ich glaube, die Amme taugt nichts, gnädiger Herr«, erklärte die Engländerin in entschiedenem Tone.
»Warum glauben Sie das?« fragte er, stehen bleibend.
»Bei der Gräfin Pohl war es genau ebenso, gnädiger Herr. Es wurde an dem Kinde herumgedoktert, und schließlich stellte sich heraus, daß es einfach hungerte: die Amme hatte nicht genug Nahrung, gnädiger Herr.«
Alexei Alexandrowitsch wurde nachdenklich; er blieb noch ein paar Sekunden lang stehen und ging dann durch die andere Tür in das zweite Zimmer. Die Kleine lag mit zurückgeworfenem Köpfchen, sich krümmend, in den Armen der Amme und wollte weder die ihr angebotene üppige Brust annehmen noch zu schreien aufhören, obgleich sowohl die Amme wie auch die Kinderfrau, die sich gleichfalls über sie beugte, sie durch Zischen zu beruhigen suchten.
»Immer noch nicht besser?« fragte Alexei Alexandrowitsch.
»Sie ist sehr unruhig«, antwortete die Kinderfrau flüsternd.
»Miß