Kranichschwingen. G. K. Ruediger
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Für Heidi
Alle Personen, Ereignisse und Orte
dieser Erzählungen sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit noch lebenden Personen,
Orten oder Geschehnissen wären zufällig.
G. K. Ruediger, unter diesem Pseudonym publiziert der 1949 in Karlsruhe geborene Rüdiger K. Herrscher seit 2021 bei Lindemanns. Nach dem Studium der Germanistik, Geschichte, Politikwissenschaften und Psychologie war er als Gymnasiallehrer, in der Lehrerfortbildung sowie einige Jahre an einer Schulpsychologischen Beratungsstelle tätig, ehe er zunächst die Schulleiterstelle am Melanchthon- Gymnasium Bretten und danach am Hermann-Hesse-Gymnasium Calw übernahm. Neben seiner Tätigkeit als Coach für Kinder und Jugendliche sowie Mediator und Mediatoren-Ausbilder arbeitete er viele Jahre als Fachjournalist und freier Schriftsteller für verschiedene Verlage. Neben zahlreichen Sachbüchern und Fachaufsätzen veröffentlichte er Kurzgeschichten und Gedichte in Sammlungen und Anthologien. 2021 erschien sein Buch „Morsezeichen aus der Einsamkeit“. Der Autor ist verheiratet und hat zwei erwachsene Töchter.
G. K. Ruediger
Kranich-
schwingen
Wege aus der Einsamkeit
Lindemanns
Vorweg
Seit wir Menschen vor Jahrtausenden den Charme sozialer Verbände und deren wohltuende Wirkung auf unser Innerstes erfahren durften, beschäftigen wir uns mit dem Miteinander, mit der zwischenmenschlichen Kommunikation, mit den Gefühlen, die uns das Zusammenleben in Gruppen, in Familien, in Partnerschaften erst ermöglichen. Spätestens seit der Epoche der Romantik war es nicht mehr ungehörig, dass Menschen sich in Liebe verbunden fühlten und dies in Liedern und Gedichten auch öffentlich zum Ausdruck brachten, obwohl Ehen, als der klassische, in Konventionen gegossene Ausdruck der Geschlechterverbindung, bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein meist unter rein ökonomischen, sachlich nüchternen Überlegungen geschlossen wurden.
Dass früher derart geschlossene Ehen ein Leben lang hielten, während sich die Statistiken heutiger Scheidungsraten in Mitteleuropa jährlich zu neuen Höhepunkten emporschwingen, hängt nicht mit dieser archetypisch emotionslosen Grundlage von damals zusammen, sondern allein mit der Tatsache, dass es heute nahezu selbstverständlich ist, dass Menschen, durch intensive Aufklärung zur Liebe befähigt und ermutigt, sich einem Partner auf dieser von Gefühlen geschaffenen Basis zuwenden, sobald sie erkennen können, dass sie in der Welt des Wunschpartners vorkommen. So kann dieser oder diese für ihn respektive sie aufgeschlossen bleiben und in der täglichen Kommunikation über diese Liebe sich mit dem Partner, der Partnerin in der Beziehung weiterentwickeln, eventuell auch verändern. Wo das nicht mehr möglich ist oder als niemals vorhanden festgestellt werden muss, findet die Liebe fast zwangsläufig ihr dann bitteres Ende.
Vor allem in der derzeit nahezu unkontrolliert durch Europa mäandernden Corona-Pandemie wird die Liebe zwischen Partnern auf die ultimative Bewährungsprobe gestellt, nachdem gesellschaftliche Vernunft ganz offensichtlich an ihre Grenzen gestoßen ist und eine neue Wut sich gegen diese Fortschritte auflehnt, von egomanischen Unvernunftsfetischisten und Wissenschaftsleugnern massiv befördert. Die Belastungen im Alltag durch gesundheitspolitisch notwendige Einschränkungen fordern von jedem ein Höchstmaß an Verständnis für den anderen, ein Höchstmaß an Toleranz. Gerade jetzt muss sich Liebe ständig neu erfinden, im stetigen Fluss frei aller von außen auferlegten moralischen Regeln und Einschränkungen bleiben. Dazu gehören die bedingungslose Entmaterialisierung von Liebesbeziehungen, die Aufgabe von Privilegien, die man dem Partner gegenüber zu besitzen glaubt, die Aufgabe von Besitzansprüchen, der Verzicht auf sogenannte Liebesbeweise. Liebe darf nicht in sich selbst verharren, indem beispielsweise der Anfang pseudoromantisch verklärt wird, das „weißt du noch“ zum Dressurritual verkümmert. Dann lässt das bereits angelegte Ende meist nicht lange auf sich warten. Niemals verharren, sondern miteinander in der Liebe wachsen, dabei die eigene Identität weiter entwickeln und zur in der Liebe gereiften Persönlichkeit sich zu verändern ist eines der Geheimnisse gelingender Liebe, gelingender Partnerschaft, völlig unabhängig von der sexuellen Orientierung der Partner.
In der Liebe mehr zu geben als gefordert wird, statt auf vermeintlich berechtigten Ansprüchen zu beharren, sich der Liebe mit Leidenschaft auszuliefern und sie tagtäglich neu zu entdecken, statt sich mit banalen, vermeintlich die Liebe befeuernden Ekstasen der drohenden Langeweile und dem näher rückenden Ende zu entziehen – ein weiteres Geheimnis. Veränderungen in der Liebesbeziehung gemeinsam zu entdecken, sich darüber auszutauschen und mit einfühlsamer Rhetorik neue Werte und neue Anreize für die Liebe zu erschaffen – ein übriges.
Liebe in Hingabe wird niemals unklug dem Partner gegenüber handeln, einzig aus einer momentanen, oft schicksalhaften Laune heraus, sondern sich nach jedem gemeinsam erlebten emotionalen oder erotischen Höhepunkt klug zurücknehmen, um jegliches eigene Anspruchsdenken abzuwehren. Und um Schaden vom Partner abzuwenden. So können aus dem Beieinander und Miteinander keine Ambivalenzen erwachsen, welche dem Auseinander Vorschub leisten. Und Liebe kann jede Grenze überwinden: religiöse, kulturelle oder selbst altersbedingte.
Liebe kann selbst denjenigen Menschen neue Perspektiven eröffnen, die sich nach einer gescheiterten Beziehung in die selbst gewählte oder fremdbestimmte Isolation begeben haben. Aus der Liebe erwachsen Auswege aus dem vermeintlich endlosen Tunnel, auch wenn der Weg steinig und anstrengend sein mag. Am Ende trägt die Liebe jeden davon aus seinem Jammertal, leicht und schwerelos wie mit Kranichschwingen.
Kreuzweg
Im Nachhinein fiel es einem immer schwer, genau festzulegen, wann es nun angefangen hatte. Aber das war eigentlich egal, denn er war noch nie ein Jahrestag-Fetischist gewesen, hatte selbst mit diesen ritualisierten christlichen Feiertagen wie Ostern, Pfingsten und Weihnachten Mühe, um sie nicht zu vergessen. Ein paar Menschen gab es ja, die von ihm wenigstens zu Weihnachten ein Lebenszeichen, in Geschenkpapier verpackte Aufmerksamkeiten erwarteten, auch wenn ihm selbst das schon immer herzlich egal war. Und jetzt, mitten in den Beschränkungen durch die harten Pandemie-Auflagen der Bundesregierung, vermisste er, im Gegensatz zu vielen anderen, eigentlich rein gar nichts.
Seit Kindertagen war ihm dieses verlogene, moralinsaure Getue um die Geburt des vermeintlichen Erlösers zuwider, von einem Tag auf den andern lagen sich Menschen, die sich das restliche Jahr über in Zank und Streit herzhaft verbunden wussten, in den Armen, vergossen ein paar frömmelnde Tränchen und pflegten ihre Heuchelei unterm bunt staffierten Weihnachtsbaum, zu dem er selbst ein eher ambivalentes Verhältnis hatte: Einerseits brachte er Grün ins Wohnzimmer, andererseits war er als Symbol vollkommen überholt und in einer Zeit, in der weltweit über vierzig Kriege oder Bürgerkriege tobten, fast schon eine Verhöhnung der Betroffenen, ob sie nun Christen oder Andersgläubige sein mochten. Jetzt wurde dem durch das boshafte Virus zumindest teilweise Einhalt geboten.
Seine Exfrau, diese Schicki-Micki-Tante, die sich das teure Loft in Hamburg aus der Scheidungsmasse gekrallt hatte, erwartete noch immer ein Weihnachtsgeschenk von ihm. Als sie es in den ersten Jahren nach der bitteren Scheidung – immerhin hatte sie ihn mit diesem Bodymaßindex normierten Fußballprofi betrogen – nicht erhielt, instrumentalisierte Jolanthe die in London lebende Tochter, welche sich dem Vater zwar verbunden fühlte, aber keinen Stress mit ihrer zickigen Mutter wollte. Also biss er Vanessa zuliebe in den sauren Apfel und erwarb für seine Ex auf einer Auktion zu jedem Anlass ein günstiges Schmuckstück. Vanessa erhielt wie gewohnt ihren Weihnachtsscheck, und damit hatte es sich dann auch.
Jedenfalls fiele ihm das Datum beim besten Willen nicht mehr ein, wann es wirklich angefangen hatte. Die Beschränkungen im öffentlichen Leben, das Maskentragen und