Kranichschwingen. G. K. Ruediger

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Kranichschwingen - G. K. Ruediger Lindemanns Bibliothek

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Urnengrab, sah er nichts Vernünftiges mehr in seinem Tun, in seinen jahrelangen Optimierungs-, Rationalisierungs- und Kostendämpfungsprogrammen für die Global Player dieser künstlichen Welt, die in aller Regel mit Arbeitsplatzverlusten verbunden waren. Verlusten für die kleinen Leute, für die, welche am Fließband seine Ideen mit immer weniger Personal umsetzen durften.

      Alle waren überrascht, als er von heute auf morgen mit gerade sechzig Jahren ausstieg, auf dem Höhepunkt seines Schaffens. Ersparnisse waren zur Genüge vorhanden: Aktienpakete, ein Nummernkonto in der Schweiz, drei Firmenbeteiligungen bei aufstrebenden Startups. Zum Leben für einen kinderlosen Privatier mehr als genug. Die nach Beas Tod überflüssigen Lofts in New York und London waren schnell lukrativ verkauft, die Villa in Thonon les Bains am Genfer See behielt er einstweilen, ebenso das Appartement in Bretten, dem letzten Stützpfeiler seiner nie zur Gänze vergessenen badisch-beschaulichen Herkunft. Er machte sich auf die Suche. Auf die strapaziöse Suche nach sich selbst, nach all dem in seinem Innersten, das er lange nicht mehr gefühlt hatte. Fühlen, das brachte ihm einst die Großmutter im Kraichgau bei, war essenziell für das seelische und körperliche Wohlbefinden. Nicht umsonst hatte sie ihn immer wieder alles Mögliche fühlen lassen, seine taktilen, olfaktorischen und geschmacklichen Sinne geschärft. Ein Hühnerküken fühlte sich zart an, forderte Behutsamkeit. Eine Fliederblüte konnte die Sinne betören. Und ein Blatt der frisch gepflückten Pfefferminze aus dem Bauerngarten schmeckte vor allem im Sommer frisch und belebend, ersetzte ihm damals die Pfefferminzbonbons seines späteren Lebens. All das strömte urplötzlich wieder auf ihn ein, in der idyllischen Abgeschiedenheit dieses Fleckchens Erde. Er konnte noch fühlen, schmecken, riechen. Nahm sich und alles um sich herum wieder mit allen Sinnen wahr.

      Die Tränen, die ihm am mäandernden Bächlein plötzlich eine Tür zu seiner Seele öffneten, schufen Platz für längst verdrängte Erinnerungen, ließen Bilder in ihm hochsteigen, die sowohl schmerzten als auch hin und wieder ein Lächeln auf sein unrasiertes Gesicht zauberten. Er lag im kniehohen Gras, die Füße im kühlen Nass, das scheinbar den nicht enden wollenden Tränenfluss mit immer neuer Nahrung versorgte. Hier vollzog sich die endgültige Wende in seinem Leben. Sein von stetiger Hektik geprägter Ausflug in die große weite Welt war beendet, hier, in dieser unaufdringlichen Landschaft, konnte er in die Balance früher Kindheitstage zurückfinden. Er ließ die Tränen einfach weiter fließen, bis sie von allein versiegten, bis sie allen angestauten Kummer hinweggespült hatten.

      Carl-Peter zog Schuhe und Strümpfe wieder an, begann den Rückweg zur Pension. Schnell entschlossen buchte er nach seiner Rückkehr das kleine Gästezimmer mit Etagendusche, betrat den kleinen, geschotterten Parkplatz, auf dem sein gepflegter Oldtimer abgestellt war, und brachte seinen Koffer ins Haus. Das Zimmer war überschaubar, aber sauber. Blümchenvorhänge an den Fenstern, ein übergroßes Che-Guevara-Poster zierte die Wand über dem kleinen Tisch, das Bett bequem. Ein ausgebleichter, selbst geknüpfter Teppich aus einst wohl leuchtendem roten und gelben Garn diente vor dem Bett als Fußwärmer. Die Welt schien hier in den Sechzigern stehen geblieben.

      Carl-Peter wollte für eine Woche bleiben, sich hier in der Ruhe und Abgeschiedenheit erholen. Nach einer ausgiebigen Dusche genoss er das rustikale Abendessen aus Pfälzer Wurst und Käse sowie dem leckeren hauseigenen Brot. Nach zwei Vierteln Pfälzer Riesling fand er früher als sonst den Schlaf des Heimgefundenen bis weit in den nächsten Morgen hinein, als die Septembersonne bereits fordernd in sein Zimmer blinzelte. Er frühstückte, anders als vor Monaten von der hippen Ernährungsberaterin empfohlen, Rührei mit Speckwürfeln, genoss das noch ofenwarme, frisch gebackene Bauernbrot aus dunklen Mehlsorten dazu, ehe er sich gegen elf auf seine geplante tägliche Wanderung begab. Überall vernahm er die Paarungsrufe der Meisen, Buchfinken, Girlitze und Zeisige, hörte zum ersten Mal nach einer gefühlten Ewigkeit einen Kuckuck auf der Suche nach einem aufnahmebereiten Nest für seine Schmarotzer-Brut selbstbewusst rufen. Ein Specht hämmerte wild auf einen morschen Fichtenstamm ein, Eichelhäher schwirrten streitend durch den sich zu einer Lichtung öffnenden Wald. Er blickte auf die Löwenzahnwiese, hörte Bienen und Hummeln zufrieden summen, fühlte, wie sich seine Wahrnehmung jenseits von Tablet, Laptop und Smartphone wieder schärfte.

      Als er abends mit einem weiteren kräftigen Pfälzer Abendessen, Saumagen mit Bratkartoffeln und Karottensalat sowie zwei Gläsern Riesling und einem oder zwei Mirabellenschnäpsen zur besseren Verdauung diesen wunderbaren Tag abschloss, empfand er zum ersten Mal seit Beas Verlust wieder etwas Zufriedenheit. War es nicht das, was letztlich ein erfülltes Leben ausmachte? Nicht das große, sagenhafte, alles umfassende Glück, sondern täglich eine Prise Zufriedenheit mit sich und der Welt, trotz aller Kriege und Hungersnöte, an denen er nichts ändern konnte.

      In der kleinen, wohligen Gaststube entging es ihm beim Abendessen natürlich nicht, dass die Mittfünfzigerin Klara, eine vollschlanke, aber noch immer attraktive Erscheinung mit großen dunklen Augen und sinnlich vollen Lippen, ihn permanent anbalzte, sich ihm fast unanständig aufdrängte, als sie sich grundlos und ohne Rücksicht auf die anderen Gäste an seinen Tisch setzte, sobald sie in ihrer kleinen Küche fertig war. Sie besaß die Eigenart, ihn im Gespräch, das stellenweise eher an ein Verhörgespräch erinnerte, ständig anfassen zu müssen, an den Händen, den Armen, und, manchmal ganz dreist, am Oberschenkel, während er nur Augen für die rassige, dunkelhaarige Tochter hatte, die hinter der Theke trotz voller Gaststube immer ein Lächeln auf den rotgemalten Lippen hatte. Für ihn? Für einen der anderen Gäste? Oder einfach für alle?

      Die Jüngere faszinierte ihn. Schlug ihn in ihren Bann. Fast peinlich musste das wirken. War es, weil sie ihn mit ihren pechschwarzen, glänzenden Locken so sehr an Beate erinnerte, seine einzige und große Liebe. Sicherlich hatte sie deutlich größere, schwerere Brüste, die sich durch das leichte T-Shirt deutlich abzeichneten, und auch einen kräftigeren, rundbackigeren Hintern als seine eher knabenhafte Liebste. Doch ihr leicht rundes Gesicht mit den hohen Wangenknochen, umrahmt von schwarzen Locken, und die dunklen, strahlenden Augen, wie sie auch die Mutter besaß, erinnerten doch ganz deutlich an Beate, schienen wie aus ihren Bildern aus besseren Tagen geschnitten.

      In der darauffolgenden Nacht schlüpfte Klara, hemmungslos wie sie nun einmal war, einfach nach dem ersten, zaghaften Klopfen in sein Zimmer, nahm sich wie eine wilde Steppenfürstin einfach alles, wonach ihr der Sinn stand. Carl-Peter, der Monate mit keiner Frau zusammengewesen war, ließ es geschehen und genoss diese unverhoffte Nacht mit einer leidenschaftlichen Gefährtin, die keine Tabus zu kennen schien. Fast schämte er sich ein wenig, wenn er daran dachte, dass womöglich die anderen Gäste im hellhörigen Gebäude diese Laute der Wollust nicht überhören konnten. Und Anabelle erst? Was dächte sie wohl von ihm nach dieser Nacht?

      Als er am nächsten Abend müde und durchnässt von einem plötzlichen Gewitterregen nach seiner Tagestour ins Hotel zurückkam, empfing ihn Anabelle auf das Herzlichste, schien besorgt, nachdem ihn dieses heftige Wetter überrascht hatte, brachte ihm sofort einen heißen Tee mit Zitrone, ehe er sich eine heiße Dusche gönnte. Anabelle hatte, wie er erfuhr, heute frei, weil die holländische Wander- und Klettergruppe abreiste und die nächste erst am Freitag, also übermorgen, ankäme.

      Unter der heißen Dusche auf der Etage genoss er das warme Wasser auf seiner Haut, als die angejahrte Tür zum Bad quietschend aufging und kräftig zugeschlagen wurde. Hatte er nicht abgeschlossen? Im Dampf des heißen Wassers konnte er nur schemenhaft eine Gestalt erkennen, die sich ihrer Kleidung entledigte. Da bewegte sich jemand. Eine Frau offensichtlich. Er krächzte ein „Hallo“, erhielt aber keine Antwort. Eben wollte er die Dusche abdrehen, als eine jetzt splitternackte Anabelle zu ihm unter den heißen Strahl glitt, sich an ihn drängte, ihren Körper an seinen presste und seinen Mund, noch ehe er Fragen stellen konnte, mit wilden Küssen schloss.

      Er ließ es geschehen, ließ alles geschehen, was er sich bis dahin unter einer Dusche nicht im Traum hatte vorstellen können. Mit Bea wäre er nie auf solche Gedanken gekommen. Mit Belle war das ganz anders, ihr konnte er nicht widerstehen, ihr nichts abschlagen, sie nahm ihn einfach in Besitz, brachte ihren vom restlichen Schaum und dem weiter sprühenden Wasser glitschigen Körper in Positionen, die er in seiner bisherigen Erfahrung eher mit einem

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