Kranichschwingen. G. K. Ruediger
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Sie habe keine Probleme, meinte sie zunächst. Als er nachhakte, sie sogar zum ersten Mal in den Arm nahm, Abstand hin oder her, ließ sie den Kopf auf seine Schultern sinken, fing an zu schluchzen und erklärte ihm, nachdem sie sich einigermaßen gefangen hatte: Da sind böse Männer in der Unterkunft. Junge Männer aus Gambia. Sie wollen Bum Bum mit mir machen. Kein Interesse, ob ich auch will Bum Bum. Sie nehmen sich einfach ...
Sie haben dich vergewaltigt?
Ihr fragender Blick zeigte ihm, dass sie diesen Terminus nicht kannte, also fragte er verständlicher:
Sie haben mit Gewalt Bum Bum mit dir gemacht? Ein Nicken war die ganze, aber eindeutige Antwort. Und dann der Hinweis mit dem Kopf auf Tulum: Was, mit ihr auch?
Nein. Sie sagen: nächstes Mal.
Er wusste in diesem Moment, dass er jetzt endlich aus seinem Schneckenhaus musste, sich für sie und dieses unschuldige Kind einsetzen. Beide mussten hier bei ihm bleiben. Er besprach sich mit Fatima, rief den zuständigen Flüchtlingsbetreuer am späten Freitagnachmittag an, ließ sich von dessen Frau nicht abspeisen, erklärte, dass er sonst Strafanzeige wegen unterlassener Hilfeleistung erstatten und eine Dienstaufsichtsbeschwerde beim zuständigen Regierungspräsidium einreichen wollte, wenn der feige Hund, wie er ihn in seiner Rage titulierte, nicht sofort ans Telefon käme.
Er brüllte seine Anschuldigungen regelrecht in den Hörer, ließ den „Beamtenarsch“ und „Sesselfurzer“, der ganz typisch zunächst die Schuld beim aufreizenden Gang Fatimas suchen wollte, nicht länger zu Wort kommen, drohte mit der Presse und seiner härtesten Gangart inklusive Schlägertrupp und erreichte, dass noch abends kurz vor der Tagesschau der Kleingemachte, der regelrecht auf die passende Größe gehäckselte A11-Diener seines Dienstherrn, Fatimas persönliche Sachen vorbeibrachte.
Ein amtliches Schreiben bestätigte, dass Fatima und Tulum ab sofort bei Carsten wohnen durften; beide erhielten nur wenige Tage später dank der Hilfe seines Freundes Josef, diesem genialen Anwalt, die unbegrenzte Aufenthaltsbefugnis, und zum ersten Mal sah er wieder ein flüchtiges Lächeln über Fatimas apartes Gesicht mit den tieftraurigen, nachtdunklen Augen huschen. Die beiden bezogen die freien Gästezimmer, Tulum fühlte sich bald wie eine Prinzessin. Ihm fiel auf, dass die beiden relativ wenig Kleidungsstücke besaßen, weshalb er am nächsten Samstagmorgen, der bislang für ihn bedeutungslose 1. Advent rückte näher, nach dem Frühstück mit ihnen zum Einkaufen in ein etwa neunzig Kilometer entferntes Outlet-Center in der Nähe der Landeshauptstadt fuhr, wo er beide für fast dreitausend Euro neu einkleidete. Sein kleines Mädchen – als das empfand er inzwischen Tulum – tanzte vor Freude, umarmte ihn, gab ihm einen feuchten Kuss auf den Mund, meinte: Danke, Baba!
Fatima standen die Tränen in den Augen, und auf der Heimfahrt, als Tulum auf der Rückbank des großen Audi im Kindersitz eingeschlafen war, erzählte sie ihm zum ersten Mal aus ihrem Leben. Sie war Lehrerin in Aleppo gewesen, ihr zwanzig Jahre älterer Ehemann Arzt im größten Krankenhaus. Beim ersten Überfall der islamistischen Terroristen von Al Nusra, Verbündete des Islamischen Staates, war ihr Mann als Chefarzt aufgegriffen und hingerichtet worden, um die übrigen Ärzte leichter einschüchtern, steuern zu können. Sie weilte mit Tulum glücklicherweise auf dem Landgut ihrer Eltern, welche sie, sofort nach Eintreffen der Nachricht, in die benachbarte Türkei verfrachteten, ausgestattet mit dem gesamten Barvermögen der Eltern für die geplante Flucht.
Im September 2017 war sie mit einem riesigen Flüchtlingstreck über Ungarn nach Deutschland gelangt, ausgehungert und erschöpft, aber am Leben. Sie war erfreut über die Offenheit der Menschen hier und über die Einladung der Bundeskanzlerin. Erst mit der Zeit lernte sie die wahren Probleme kennen, den Druck in den Flüchtlingsunterkünften, die Einschüchterung durch nationalistische Deutsche, die ihr Angst machten.
Carsten versicherte ihr, dass sie von jetzt an keine Angst mehr haben müsse, weder um sich noch um ihre Tochter; sie lebten jetzt mit ihm zusammen, wie eine kleine Familie, und er sorge für sie. Vor den Gambiern müsse sie auch keine Angst mehr haben, deren Erziehung hatte ihn gerade einmal dreitausend Euro für die Fighter seines Freundes Georg aus dem Karate-Klub gekostet. Fatima könnte jetzt endlich zur Ruhe kommen und ihre schrecklichen Erlebnisse aufarbeiten, gerne auch im Gespräch mit ihm.
Und du? Was du willst?
Mit der Satzstellung haperte es bei Fatima immer nur dann, wenn sie angespannt, nervös war. Er verstand nicht gleich, worauf sie hinauswollte, doch dann dämmerte es.
Ich bin so froh, dass ihr beide da seid. Ich freue mich über eure Gesellschaft und habe dich und Tulum liebgewonnen. Ich war so lange allein, dass ich euch beide wirklich wie meine Familie empfinde.
Sie lebten einige Wochen zusammen, fuhren im Frühjahr, als die Beschränkungen gelockert worden waren, über die Wochenenden nach Österreich oder in die Schweiz. Tulum war begeistert von den Alpengipfeln, und als er sie einmal beim Abstieg vom Schafsberg nach einer anstrengenden Wandertour im Salzkammergut die letzten paar Kilometer bis zum Auto tragen musste, konnte er seine Tränen nicht länger zurückhalten. Welch ein Glück war ihm da doch noch einmal beschieden worden. Eine wunderbare Frau, die immer besser Deutsch sprach, ein lebendiges, wunderbares Kind, das er längst wie sein eigenes angenommen hatte.
Eingetrübt wurde das Glück während ihres Urlaubs in der Bretagne, Ende August. Die Corona-Beschränkungen, selbst im stark betroffenen Frankreich, waren größtenteils aufgehoben. Fatima zog sich mehr und mehr in sich selbst zurück, sprach wenig, wich ihm aus, wenn er wissen wollte, ob sie etwas bedrücke.
Ist nix, war ihre Standardantwort.
Er insistierte, bedrängte sie regelrecht, weil er genau erspürte, dass etwas nicht stimmte. Und endlich, als abends nach einem anstrengenden Tagesausflug Tulum erschöpft eingeschlafen war, brach es, als er wieder einmal ein Fragentrommelfeuer abfeuerte, aus ihr heraus: Du magst mich nicht. Ich wahrscheinlich hässlich bin. Du duldest mich nur, weil du mein Kind magst. Du nur Augen für Tulum hast, sie du liebst. Mich nicht.
Sie weinte. Heftig. Schluchzte zum Steinerweichen.
Endlich gelang es ihm, sich zu überwinden, sie in den Arm zu nehmen.
Das stimmt nicht. Ich liebe euch beide. Aber ich wollte dich auf keinen Fall bedrängen, nach allem, was du durchgemacht hast. Ich hatte Angst, du könntest auch vor mir davonlaufen, wenn ich dich zu sehr bedränge. Ich liebe dich auch ohne alles andere, ohne Umarmen oder Sex.
Mit großen Augen sah sie ihn staunend an. War fassungslos.
Du sagst, du liebst mich, aber willst nicht in mein Bett, weil du hast Angst, mir wehzutun? Kein arabischer Mann so denkt. Nimmt sich, was er will. Ohne zu fragen.
Er sah ihr zartes Lächeln nicht, schämte sich, dass er sie sehr bedrängt und mit seinen Worten offensichtlich verwirrt hatte. Als er nach dem anschließenden Strandspaziergang am heute recht ruhigen Atlantik entlang in der Dämmerung bei hereinbrechender Flut ins Haus zurückkehrte, waren alle Lichter aus. Also schliefen beide. Gut so. Er duschte ausgiebig, am Ende kalt, weil die Gedanken immer wieder um Fatima kreisten und entsprechende Reaktionen bei ihm auslösten, die nur mit kalten Güssen zu bewältigen waren, und kroch wie üblich ohne Schlafanzug unter das herrlich kühle Leinen. Er musste schon eingedämmert gewesen sein, als ihn ein Geräusch an der Tür weckte.