Die Ewigkeit ist nur ein Augenblick. Petra Häußer

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Die Ewigkeit ist nur ein Augenblick - Petra Häußer Lindemanns Bibliothek

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zu zügeln, ihr Gezänk, ihre Verfolgungsjagden über Tische und Stühle durch alle Räume abzufangen, mit dem schreienden Säugling auf dem Arm.

      „Mine“, sagte ihr Mann, hob sie vom Boden auf und versuchte sie in den Arm zu nehmen, „meine liebe gute süße Frau, mein Ein und Alles, mein Morgen- und mein Abendstern, mein Lebenselixier, schau doch mal her.“

      Er packte seine Kinder nacheinander um die Taille und setzte sie auf den Bücherschrank, so dass ihre Beine vor den Augen der Mutter zuckten und wippten, den Täufling hielt er hoch über seinen Kopf und stellte sich neben den Bücherschrank.

      „Wen, meine Liebe, wen möchtest du denn hergeben? Auf wen kannst du denn am besten verzichten.“

      Mine atmete ein und aus, heftig, schnell, schniefend und schluchzend. Langsam beruhigte sie sich, ihr Mund verzog sich zu einem zaghaften Lächeln, in den Augenwinkeln kräuselte sich die zarte Haut. Sie schluckte. Was sie in diesen Minuten dachte, erzählte sie nie und niemandem.

      „Kommt da runter“, sagte sie.

      Die Größeren konnten selbst von ihrem Hochsitz abspringen, die Kleinen wurden vom Vater befreit, nachdem Bertel, der Älteste, das Baby übernommen hatte. Mine schlang ihre dünnen Arme um sie alle und ein paar letzte Tränen fielen auf ihre immer noch strubbeligen Haare.

      „Ich geb’ keinen her. Keinen von euch“, rief sie laut und deutlich. Da waren es erst sieben. Drei weitere Kinder wurden ihnen noch geboren. Aber dazwischen mussten Mine und Paul zwei ihrer Söhne zu Grabe tragen.

      Zu diesem Zeitpunkt waren sie deutlich sichtbar, hörbar, fühlbar eine Familie, hatten fast keine Geheimnisse voreinander, das ging nicht, weil man auf so engem Raum zusammenlebte. Was dem einen passierte, ging alle an. Keiner konnte die Flügel aufspannen und wegfliegen, wollte es auch nicht. Dann wurden sie größer und irgendwann mussten sie fliegen, weil es das normale Leben ist, dass man den Vater und die Mutter verlässt und selbst eine Familie gründet. Alle würden es versuchen und nur manchen würde es gelingen. Aber es würde weitergehen. Eine Weile würde man sich noch einander zugehörig fühlen, würde sich Familie nennen. Dann gäbe es den Namen nicht mehr, dann wären die Fäden dünn und brüchig, die sich um sie schlangen, und neue festere Fäden hätten die Nachkommen an andere Menschen gebunden und neue Familien begründet.

      Die Schwägerin

      2010

      Als Elfi starb, kannte Ruth Elfis Cousins und Cousinen väterlicherseits noch nicht sehr gut. Aber sie lernte sie kennen, alle kamen sie, um ihr zu helfen. Dort in München, in Elfis Wohnung, trafen sie zusammen und ertrugen die Fassungslosigkeit gemeinsam mit ihr, den Schrecken über den plötzlichen Tod ihrer geliebten einzigen Verwandten, ihrer Nichte, die wie eine eigene Tochter für sie gewesen war seit ihrer Geburt, damals mitten im Krieg. Es kamen zwei Cousins und zwei Cousinen. Bis dahin waren sie nicht viel mehr als Namen und Gesichter auf Fotografien für sie gewesen. Fotografien, denen Elfi nach und nach mit einzelnen Erzählungen ein bisschen Leben eingehaucht hatte. Hansi, der älteste Cousin. Dann Theo, dann Margot, nur zwei Jahre jünger als Elfi selbst, und Beate.

      Ruth hatte stets Vorbehalte gehabt gegen diese Familie. Wenn sie heute überlegte, warum, dann musste sie sich eingestehen, dass sie dieses Misstrauen unreflektiert von ihrer Schwester Lilli, Elfis Mutter, übernommen hatte. Elfi und ihre Tante Ruth waren nach Lillis Tod eine Familie gewesen, vertraut und einander voller Liebe und Fürsorge zugetan. Die eine immer in den Gedanken der anderen präsent. Alles, was man tat, wog man ab in Bezug auf die andere.

      Sie waren übrig geblieben, einander geblieben, füreinander da geblieben. Miteinander hatten sie viel Zeit verbracht, Anteil aneinander genommen, einander vertraut, aber sich nicht alles anvertraut, aus Rücksicht aufeinander, aus Liebe zueinander. Jeder hatte auch sein eigenes Leben gelebt.

      Als Elfi geboren wurde, da existierte die Ehe ihrer Eltern praktisch nur noch auf dem Papier. Der Vater Walter Soldat, die Mutter Lilli zurückgekehrt in ihr Elternhaus, oder besser gesagt, in das Haus ihrer Mutter und ihres Stiefvaters und zu ihr, zu Ruth, der vier Jahre jüngeren Schwester. Lilli war 21 Jahre alt, als sie Mutter wurde. Nachdem Elfis Vater aus sowjetischer Gefangenschaft zurückkam, erst 1949, müde, dünn, krank, stumm, lebte die kleine Familie noch einmal zwei Jahre mehr schlecht als recht zusammen und dann reichte Ruths Schwester die Scheidung ein. Die elfjährige Elfi verlor den Kontakt mit ihrem Vater. Lilli trennte sich nicht nur von ihrem Ehemann, sondern auch von seiner Familie, wollte nichts mehr mit ihnen zu tun haben, erklärte sie alle zu Unpersonen. Schwiegermutter, Schwäger und Schwägerinnen, auch deren Ehepartner und Kinder. Energisch, kompromisslos, so wie sie eben war. Das letzte Zusammensein mit der Familie war die Hochzeit von Walters Nichte Inge, Tochter seiner älteren Schwester Helene. Ruth hatte die Fotos gefunden, die eine strahlende Braut zeigten, vor dem frisch vermählten Paar drei Blumenkinder, der elfjährige Theo, die achtjährige Elfi und die sechsjährige Margot. Hinter ihnen ihre Großmutter Wilhelmine, eine zierliche Person mit Brille, und leicht distanziertem Blick, neben der Schwiegermutter die strahlende Lilli und Walter mit seinem schönsten Lächeln, ein glückliches Paar? Wenn man genau hinsah, bemerkte man, dass die beiden dicht bei dicht standen, ihre Hände berührten einander fast, aber nur fast. Hätte sich bei einem glücklichen Paar nicht eine Hand in die andere geschmiegt angesichts der Rührung, die doch nahezu jeden überkam, wenn man gerade in einer Kirche war, wo ein Pfarrer die Macht der Liebe und Treue bis in den Tod beschworen hatte?

      So trafen Lilli und Elfi das letzte Mal mit diesem Familienzweig zusammen. Erst nach Lillis Tod konnte Elfi sich auf die Suche nach ihrem Vater und seinen Verwandten machen und ihn in seinen letzten Lebensjahren begleiten. Dank Walters Fähigkeit, nicht zurück und nicht nach vorne zu schauen, nur den Augenblick zu betrachten, zu genießen oder an ihm zu leiden, fanden Vater und Tochter schnell zu jenem intimen Verständnis, das nur entstehen kann, wenn man den anderen kennt, weil man ihm ähnelt und weil man auf Schritt und Tritt auf diese Ähnlichkeit gestoßen wird. Wenn man sich selbst liebt, gelernt hat, die eigenen Fehler zu akzeptieren und sich der eigenen Stärken bewusst ist, dann kann man auch diesen anderen Menschen, der so oft denkt, fühlt, handelt, wie man selbst es tun würde oder tat, lieben, achten und hat die nötige Geduld mit ihm.

      Als Elfi ihren Vater wiederfand, lebte er schon in einem Altersheim. Sehr zufrieden! Da er jeden Tag etwas zu essen bekam und einige seiner geliebten Bücher mitgenommen hatte, diejenigen, die seiner privaten Insolvenz entkommen waren, weil er sie rechtzeitig bei seiner ältesten Schwester Johanna untergestellt hatte. Bei ihr hatte er auch einige Jahre gelebt, bevor beide zusammen in dieses Heim zogen.

      Walter hatte einen kleinen Fernsehapparat, den Elfi gleich, nachdem sie ihn das erste Mal besuchte, durch einen größeren Farbfernseher ersetzte. Außerdem legte sie eine Liste all der Bücher an, die der Vater verloren hatte und an denen er hing, aus denen er zitierte, auf die er sich immer wieder bezog in ihren Vater-Tochter-Gesprächen. Dass auch seine älteste Schwester Johanna in dem Heim lebte, war ein Trost und Rückhalt für ihn, obwohl er gerade mit ihr nie ein enges vertrautes Verhältnis hatte aufbauen können, vielleicht weil sie so verschieden waren.

      Johanna glich äußerlich der Mutter und schlug ganz in deren Familie. Sie war korrekt, ehrgeizig, es lag ihr viel daran, einen seriösen Rahmen um sich aufzubauen. Sie nahm in den letzten Jahren die alte Mutter bei sich auf und pflegte sie bis in ihren Tod hinein. Damit war sie und blieb es auch über den Tod Wilhelmines hinaus das Zentrum der ganzen Familie Sömmer. Und noch im Heim hatte sie regelmäßig Besuch von ihren Nichten und Neffen, denn sie überlebte all ihre Geschwister, auch ihren elf Jahre jüngeren Bruder Walter. Sie überlebte sogar sich selbst. Am Ende ihrer lichten Tage, da war sie 92 Jahre alt und die Mauer hatte sich gerade geöffnet, freute sie sich: „Johanna und ich könnten jetzt zusammen rüber reisen nach Sömmerda, wo der Vater geboren wurde.“

      Wer sie inzwischen geworden war, wusste man nicht. Hatte sie die Identität einer

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