Die Ewigkeit ist nur ein Augenblick. Petra Häußer
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Читать онлайн книгу Die Ewigkeit ist nur ein Augenblick - Petra Häußer страница 8
Im brennenden Berlin wollte er herumgeirrt sein, während der Führer in seinem Bunker Selbstmord beging. Da war Hansi elf Jahre alt gewesen. Ein elfjähriger vaterloser kleiner Kerl, der dringend ein männliches Vorbild gebraucht hätte, um erwachsen werden zu können. Wo waren sie da, seine Onkels und auch der Richard? Wo waren die Ersatzväter? Sie kamen zurück aus dem Krieg, aber sein Vater blieb weg für immer. Sie kamen zurück und hockten in den Ecken herum bei den Geburtstagsfeiern, wenn sich die Familie traf. Hockten dort, rauchten, verständigten sich in merkwürdigen Halbsätzen und Codewörtern. Bis sich Onkel Walter schließlich ans Klavier setzte, bis sich Tante Sofie daneben stellte und zu singen begann: „O, Donna Klara, ich hab dich tanzen geseh’n ...“ So eine Familie war das!
Immerhin hat Hansi ja noch eine andere Familie, eine Mutter, eine Großmutter, eine Schwester. Das ist seine eigentliche Familie, seine tägliche Familie. Wo sie wohnen, ist auch seine Heimat, dort stehen sein Bett und der Tisch, an dem er ernährt wird. Die Mutter ernährt und kleidet ihn, lobt ihn, tadelt ihn, hält ihn auf dem rechten Weg in eine lebenswerte Zukunft. Eines muss er zugeben, hier in Mannheim geht es wesentlich lustiger zu als zu Hause in Mainz-Kastel. Hier flimmert die Luft, er kann nicht gleichzeitig überall hinschauen, wo sich etwas Merkwürdiges, Interessantes ereignet. Musik fließt um diese Tanten und Onkels wie ein lebenslustiger Wasserfall, wischt und wäscht alle Sorgen weg für die Zeit ihres Klingens und manchmal auch Dröhnens, Klopfens, es zittern die Stühle, der Tisch wackelt, sogar die Vorhänge schweben auf und nieder, hin und her. Mitten im Getöse das winzig kleine Omale mit leicht abwesendem Lächeln, die Mutter von all diesen Leuten, die nun mal seine Blutsverwandten sind, deren Namen er trägt, und so wie es aussieht, ist er der einzige männliche Träger in der nächsten Generation.
Theo weiß nicht, ob er sich neben Hansi oder neben Richard stellen soll. Hansi hat ihn ziemlich abblitzen lassen. Der hängt immer den Älteren raus, der schon weiß, was er werden will. Ingenieur! Das klingt wie Hexenmeister, wenn Hansi es ausspricht. Und einmal hat er sogar gesagt: Flugzeugingenieur. Theo vermutet, dass Hansi sich den Richard zum Vorbild nimmt, der war doch Testflieger gewesen im Krieg. Und ausgebildeter Funker. Theo erinnert sich daran, wie Richard im Kreis der Tanten und Onkels einmal diese Geschichte erzählte aus seiner Grundausbildung: Er hatte den Auftrag, ein Funkgerät so geschickt zu positionieren, dass kein Feindeinblick möglich gewesen wäre. So ging er hin und her, brauchte stundenlang, fand schließlich eine Art Höhle unter einer riesigen Baumwurzel, dort baute er das Gerät auf. Als er nach Stunden immer noch auf einen Funkspruch wartete, den er hätte erwidern können, dämmerte ihm, dass er sich wohl in ein Funkloch begeben hatte und von dort aus überhaupt kein Kontakt möglich war. Da lachten alle, lachten glücklich über diese lustige Geschichte, klopften Richard auf die Schulter, schüttelten
den Kopf, staunten und er, der kleine Theo, staunte auch, dass Richard nicht darauf bestand, der zu sein, für den sie ihn alle hielten: ein Held.
„Stimmt das alles Richard?“, fragte er ihn schließlich.
„Oder ist es nur eine Geschichte?“
„Es ist eine Geschichte und es stimmt. Im Wesentlichen jedenfalls. Ein bisschen muss man immer an der Wahrheit drehen, wenn man sie in eine gute Geschichte verwandeln will.“
Theo geht hinüber, stellt sich neben Richard und schnüffelt nach dem Duft seiner Reval.
„Stimmt das, Richard, dass der Onkel Bertel den Sepp Herberger persönlich kennt?“
„Das stimmt. Aber darauf kann man sich nichts einbilden, weißt du, Kleiner. Der Herberger, der war ein verdammter Nazi, und heut’ will das keiner mehr wissen. Das ist die Wahrheit.“
Richard hatte seine eigene kleine Familie, seine Frau Isa und die vierjährige Tochter Beate bei seiner Tante Johanna und dem Omale Sömmer abgegeben, bevor er zu den Männern gestoßen war, um teilzunehmen an diesem Sportereignis.
Unterwegs war er seiner Tante Sofie begegnet, die sich zu den Frauen gesellen wollte, nachdem sie die Männer mit allem versorgt hatte, was sie brauchen würden: Zigaretten, Bier und Schinkenbrote.
„Bitte sorge dafür, dass Tante Johanna nichts Dummes sagt. Du kennst doch die wunden Punkte meiner Frau und weißt, wie leicht man sie verletzen kann.“
„Du kannst dich auf mich verlassen.“
Die besonderen Kinder:
Der Älteste und das Nesthäkchen
Sofie verstand sich gut mit Richards Frau. Seit der Hochzeit der beiden schon waren sie einander zugetan. Hatten einander immer etwas zu erzählen. Aber in Wirklichkeit hatte sich Sofie in Isas Herz geschlichen, weil sie sich mit ihr verbündete gegen ihre eigene Schwester Helene, Isas Schwiegermutter. Prangerte Helenes Hochmut an, bezeichnete das, was man im Allgemeinen Helenes Stolz nannte, als großes Unrecht, das als Bürde zentnerschwer auf dem armen Richard lastete. Ständig diese Erwartungen, dass er etwas Besonderes sei, ein guter Schüler, ein begabter Musiker, ein treuer Nationalsozialist, ein tapferer Soldat, ja, Helene hatte ihn in die Rolle des Ritters Richard Löwenherz drängen wollen, das musste doch einmal ausgesprochen werden! Sofie hielt nichts davon, immer alles unter den Teppich zu kehren, was nicht in Ordnung war.
Hinter Helenes wahnwitzigem Ehrgeiz stand, das wusste jeder in der Familie, dass sie die Vorstellung hegte, Richard, ihr Sohn, müsste das großartige Leben führen, das eigentlich auf das Richardle gewartet hätte, das liebe, temperamentvolle Richardle mit der schönen Singstimme, den flinken Fingern, den schnellen Beinen und dem hellen Kopf. Immer wieder beschwor Helene ihr totes Brüderchen herauf, so, als ob sie die Einzige gewesen wäre, die seiner nach wie vor voll inbrünstiger Treue gedachte. Sofie hatte diesen Bruder nie kennengelernt, er starb ein Jahr vor ihrer Geburt. Deshalb schmerzte sie diese Lücke im Familiengeflecht nicht. Aber Sofie wusste von Johanna, dass sie sich auch oft an das Brüderchen erinnerte, dass sie es mindestens ebenso geliebt hatte wie Helene, stiller eben, sie war auch in ihrer Trauer gefasster als Helene und versteckte ihren Unmut darüber, dass man sie oft falsch einschätzte, hinter ihrem melancholischen hellblauen Blick und den fest aufeinandergepressten Lippen.
Sofie hatte ein besonderes Verhältnis zu all ihren Geschwistern. Sie wuchs auf wie die Made im Speck, das sagten die Lenetante und die Sofietante immer wieder und sogar Bertel übernahm eines Tages genüsslich diese Formulierung.
„Keiner hat dich jemals ausgeschimpft, keiner war jemals böse mit dir, nicht einen einzigen Augenblick lang. So ein verwöhntes Nesthäkchen. Dabei bist du deinen Geschwistern ab und zu ganz schön auf die Nerven gegangen.“
Das lachte Sofie weg. Ja, sie wusste es, sie konnte jedem von ihnen alles sagen, ohne jemals negative Konsequenzen fürchten zu müssen. Aber fragen konnte auch sie längst nicht alles.
Manch