Die Ewigkeit ist nur ein Augenblick. Petra Häußer
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Hier wusste allein Sofie mehr als die anderen und hatte einmal, das war doch an Inges Hochzeit? flüsternd einen Hinweis gegeben, an Isa, weil ihr das richtig schien.
Inzwischen war Kurt in Schottland und studierte dort Theologie, wollte also Pfarrer werden. Und Bertel und Li bereiteten ihren endgültigen Umzug nach Mannheim vor.
In Bertels Leben gab es zwei unbezweifelbare Konstanten: seine geliebte Frau Li und den Fußball. An diesem Tag stand eindeutig der Fußball im Zentrum seines Interesses.
„Bist du eigentlich für Waldhof oder für den VfR, Onkel Bertel?“, fragte der 15-jährige Theo aufgeregt.
Bertel war immer für Waldhof gewesen. Dort hatte sein Interesse, seine Leidenschaft für den Fußball begonnen. Dort hatte er gekickt als junger Bursche, dorthin hatte ihn der Sepp gelockt, nachdem sie sich immer wieder am Bonadiehafen getroffen hatten und Freunde geworden waren. Bertel verbrachte die ersten Jahre seines Lebens noch in der Löwitstraße. Paul und Wilhelmine wohnten im kleinen Haus des Rheinschiffers und Lotsen Walker und seiner Frau, das waren Wilhelmines Eltern. Erst im Krieg zog die inzwischen größer gewordene Familie um in die Boeckstraße. Zu diesem Zeitpunkt war Bertel schon in Afrika. Dass ihn der Liebhaber der Koloratursopranistin Emilie Lautenschläger, der Herr von Klingenberg, dorthin mitgenommen hatte, wusste man, sprach aber nicht davon. Dass er dort nicht das hatte leisten können, wofür er vorgesehen war, drang immer mal wieder durch, geflüstert als Andeutung. Aber was? Was hätte er denn dort tun sollen? Soldat sein! Aber es gab keine Bilder von ihm, auf denen er eine Uniform trug. Nach seiner Lehre zum Feinmechaniker in der kleinen Maschinenfabrik der Familie Hartung, hatte er sich spezialisiert, dazu war er von seinen Chefs zum ersten Mal nach Oberndorf ins Schwäbische geschickt worden, da gab es eine Waffenfabrik. Als er zurückkam, folgte unmittelbar das Angebot des Herrn von Klingenberg, ihn nach Deutsch-Südwestafrika mitzunehmen. Schon im Sommer 1915 kehrte er heim nach Deutschland und ließ sich in Berlin nieder. Er arbeitete als Feinmechaniker in einer Fabrik für Kleinteile, Federn, Schrauben, Bolzen, wie er umständlich erklärte, verdiente gutes Geld und kam, so oft er konnte, zu Besuch. In Berlin hatte er damals seine Li kennengelernt. Eine schöne Frau mit dunklem Teint und fast schwarzen dicken Haaren. Sie stammte aus einer deutsch-russischen Familie aus Odessa, als einziges Familienmitglied lebte sie schon seit 1916 in Berlin, zunächst bei einer Freundin ihrer Mutter, übernahm dann deren kleinen Hutladen direkt auf der Friedrichstraße mit mehreren Angestellten und Kundinnen aus allen Gesellschaftsschichten.
Diese Informationen konnte man immerhin erhalten, wenn Wilhelmine mal einen Eierlikör oder zwei getrunken hatte, wenn ihre Gelenke nicht schmerzten, wenn sie mit einem dicken Schal umhüllt, die Füße auf einem Schemel bequem aufgestellt in ihrem Lieblingssessel saß. Vielleicht noch Kerzenschein und eine gute Tasse englischen Tee, dazu diese wunderbaren Kekse, die Johanna immer auf Vorrat in einer Blechdose aufbewahrte.
Bertel, Wilhelmines erstes Kind, das größte Wunder, das ihr widerfahren war, genoss ihre uneingeschränkte Liebe, Zuwendung und Aufmerksamkeit jederzeit. So sehr, dass er sich davor hüten musste und dass er genau überlegte, wieviel er ihr jeweils erzählte von seinem eigenen Leben.
Erst nach dem Tod der Mutter fühlte er sich freier. Da war er 58 Jahre alt, hatte noch mehr als 30 Lebensjahre vor sich und würde am Ende seines Lebens noch einmal zurückfallen in Geheimnisse, die sich erst nach seinem Tod enthüllten.
Wilhelmine hielt sich, so lange sie lebte, bereit für ihre Kinder. Wenn sie zu ihr kamen, öffnete sie ihre Arme. Sie durften sich bei ihr aussprechen, wenn sie wollten, was allerdings sehr selten vorkam. Meistens wurden die Fakten poliert und verpackt, bevor man sie der Mutter servierte. Man wollte sie schonen, sie sollte doch stolz sein können auf ihre Kinder, man wollte, dass sie ruhig schlafen konnte, dass sie der Zukunft vertraute bis über ihren Tod hinaus. Als ihr Mann noch lebte, hatte sie mit ihm über all ihre Sorgen und Zweifel sprechen können. Als er starb, musste sie versuchen, sich wechselnde Gesprächspartner zu suchen. Eine Zeit lang hatte sie ihre Schwestern Lene und Sofie. Die drei wuchsen im Alter enger zusammen, als sie sich je zuvor gefühlt hatten. Sie hegten und pflegten den Schatz der gemeinsamen Erinnerungen.
Wilhelmine begann das Briefeschreiben. Was sie vom einen erfuhr, gab sie an andere weiter, hoffte, im Gegenzug dafür mit einer Enthüllung belohnt zu werden, einem kleinen Blick hinter die schönen dichten Vorhänge, die ihre Familie ringsum sie her raffte und rüschte wie Theaterkulissen in einer Operette. So war das Leben nicht, es konnte so nicht sein, so harmonisch, voller Erfolge, Glück und Liebe! Aber was will man machen?
Ihre zwei letzten Lebensjahre lebte Wilhelmine bei ihrer ältesten Tochter Johanna und deren Mann. Die beiden ließen es ihr an nichts fehlen. Mine konnte diese Zeit genießen, manchmal jedenfalls. Sie liebte die Besuche ihrer Kinder, Schwiegerkinder, Enkelkinder. Und stolz ließ sie sich ihr erstes Urenkelkind, die kleine Beate, Richards Tochter, auf den Schoß setzen. Sah ihr in die dunklen Augen und meinte, dass es die Augen von ihrem Paul sein könnten, mandelförmig, ein bisschen eng beieinander stehend. Zwei Schlitze, wenn es ihr gelang, die Kleine zu erheitern, nicht durch Kitzeln, das wäre zu plump, sondern durch einen kleinen Vers, ein leise gesummtes Liedchen, einen Aufzählreim, einen unerwarteten Ton, einen Gickser vielleicht und eine lustige Grimasse dazu.
All das hatte sie in sich aufbewahrt für diese Zeit, die Zeit des Zurückblickens, die Zeit der Vorbereitung auf das Nicht-mehr-Sein. Immer leichter wurde ihr beim Blick in die Zukunft. Der Tod würde nicht in ein schwarzes Loch führen, sondern in ein helles Licht, das alles Gewesene ausblendete. Diese Gewissheit nahm allmählich zu.
Die Urenkelin
Irgendwann zwischen dem
3.10.1997 (Richards Todestag)
und 20.1.2020 (heute)
Richard findet schnell und problemlos ins Rauchereck. Man winkt ihm schon von Ferne: „Komm zu uns herüber, hier gehörst du hin.“
Männer und Frauen jeden Alters sitzen und stehen beieinander. Sie halten den Glimmstengel zwischen ihren Zeigefingern und Mittelfingern, manche auch so wie beim Kommiss, die Glut dem Handrücken zugedreht, eingeklemmt zwischen Mittelfinger- und Daumennagel. Die dort mit der Zigarettenspitze, das ist doch ... Marlene? Hinter dem Dunst der Zigarette changiert ihr Gesicht, ist jung, ist alt, ist unschuldig, neugierig, traurig, enttäuscht, lockt lasziv. Direkt neben ihr sitzt auf einem schweren Samtsessel ein dicker Mann mit selbstgefälligem Grinsen, aber aus den Augen blitzt es eher verschmitzt als maliziös und gleich darauf ist das Lächeln verflogen, Zigarrenrauch vernebelt ihn, es scheint, als ob seiner prallen Silhouette Luft entweicht und seine Haare verwandeln sich, werden voller, dunkelblond ...
„Na, was ist, willst du eine rauchen?“
Richard nickt.
„Du bist neu hier?“
Er nickt wieder.
„Bist du überrascht?“
„Ich habe den Eindruck, es ist gar nicht so viel anders als früher ...“
„Früher, später, diese Kategorien gibt es hier nicht. Genauso wenig gibt es Nähe und Ferne. Wir sind immer überall. Wenn wir es wollen. Oder jederzeit an einem beliebigen Ort und zugleich anderswo, jeder von uns. Die Ewigkeit ist nur ein Augenblick.“
„Sind