Himmel (schon wieder). Andrea Ross
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Vollgekotzt und kreidebleich war sie nach Hause gewankt, wo ihr Stiefmutter Meike mit ihrer Bemutterung und Besorgnis gnadenlos auf den Wecker gefallen war, Stiefvater Piet hingegen mit herben Vorwürfen. Sie konnte und wollte nichts erklären, nicht mehr reden müssen an diesem Abend.
Von diesem Zeitpunkt an veränderte sich etwas in Lena. Wenn sie schon nicht sterben durfte, dann war es auch egal, wie es weiterging. Nur nicht wie bisher, das auf gar keinen Fall. Lena beschloss, ihr Überleben als Neuanfang, wie eine neue Geburt, zu sehen. Sie hatte vor ein paar Monaten von weisen Frauen im Altertum gelesen, die für solche Zwecke ein Ritual zur Selbstsuggestion beschrieben, wonach sie dann zu neuen Persönlichkeiten, in diesem Fall zu weißen Hexen, wurden. Genau so etwas würde auch sie durchführen, das versprach sich Lena in jener Nacht. Mit ungewissem Ausgang.
Meike und Piet, ihre Stiefeltern, waren äußerst beunruhigt, als sie Lenas Verwandlung gewahrten. Ihre Tochter verschwand mit einer Decke mehrere Stunden lang, ohne wie sonst Bescheid zu geben, wohin sie ging. Dann tauchte sie mit Erdkrümeln im Haar wieder auf, trug ein vollkommen neues Outfit, das sie noch tags zuvor niemals getragen hätte, weil es für ihren Geschmack um Welten zu offenherzig wirkte. Geschminkt war sie auch noch, dabei hatte sie stets verächtlich bemerkt, dass so etwas sicher nur Mädchen täten, welche dies auch nötig hätten und die sowieso nur danach trachteten, Jungs anzumachen. Sie selbst hatte niemals auch nur ein Quäntchen Farbe aufgetragen, die ganze Pubertät lang nicht. Doch jetzt, mit ihren 19 Jahren, benahm sie sich, als wäre sie eben erst in die Pubertät gerutscht und das buchstäblich über Nacht. Lena neigte von jeher zum Extremismus. War sie früher extrem schüchtern, unauffällig und natürlich gewesen, so konnte jetzt das glatte Gegenteil zur Beschreibung dienen. Ihre gewählte, höfliche Ausdrucksweise wandelte sich zunehmend in die bei jungen Leuten weltweit so beliebte Gossensprache; sie selbst glaubte, sich so ausdrücken zu müssen, damit sie künftig als »cool« gelte. Im Gymnasium waren die Klassenkameraden begeistert, als sie Lenas Verwandlung gewahrten. Endlich war diese abgehobene, vergeistigte Schnepfe normal, eine von ihnen, geworden. Bis Lena die Schule von heute auf morgen schmiss, ihr Sparbuch plünderte und nach Spanien flog, um endlich »Party zu machen«, wie sie ihren entsetzten Adoptiveltern in arrogantem Ton fünf Minuten vor der Abreise erklärte.
Im Grunde war Lena in der Nacht ihres Selbstmordversuchs doch gestorben. Oder etwas in ihr.
Wie gesagt, aktuell langweilte sie sich im Hotel. Also machte sich die attraktive junge Frau zurecht und beschloss, wieder einmal Yoli in der Tapas-Bar zu besuchen. Sie würde per Anhalter fahren müssen, denn sonst reichten ihre Ersparnisse nicht mehr lange. Ein aufregendes Leben hatte sie sich sowieso anders vorgestellt, aber vielleicht traf sie ja dort in der Bar interessante Leute, die mit ihr etwas Abenteuerliches unternahmen. Wem gehörten denn eigentlich die ganzen schneeweißen Yachten und Segelboote dort draußen, die vor der Küste hinund her cruisten? Hatte denn niemand Interesse daran, sie zu solch einem Turn mitzunehmen? Kein Zweifel: Lena war begierig nach dem Leben, wollte die letzten Jahre gesellschaftlich mit aller Gewalt nachholen, die nahezu ereignislos an ihr vorbei gezogen waren. Jedenfalls sah sie das aus dem heutigen Blickwinkel so. Früher hatte sie ihr Leben wie im Traum verbracht; jetzt aber würde sie, die wachgeküsste Lena, ihren Traum leben. Ohne Rücksicht auf Verluste.
Auch wenn sie sich das Wachküssen von gestern Abend anders vorgestellt hätte, wie sie sich längst beschämt eingestehen musste.
* * *
Stephen McLaman erreichte nach diesem erlebnisreichen Tag endlich seine feucht-klamme Couch, die er am liebsten schon wesentlich früher an diesem Nachmittag aufgesucht hätte. Er befreite im Licht der Abenddämmerung sein neues Heizgebläse aus der opulenten Verpackung, um die feindliche Atmosphäre seines Appartements ein wenig trockener und kuscheliger zu bekommen. Das hiesige Klima hatte er echt unterschätzt, das musste er zugeben. Im Spätherbst und Winter wirkte sich die unmittelbare Nähe des Meeres eher negativ aus, die allgegenwärtige Salz-Luft ließ Metall innerhalb kürzester Zeit rosten und erfüllte die Wohnung mit fast schon modrig riechender Luftfeuchtigkeit.
Bereits nach wenigen Minuten fühlte er sich wohler, konnte sein dickes Sweatshirt wieder ablegen. Er zündete ein Räucherstäbchen an, welches dezenten Sandelholzduft verbreitete. Schon besser! Nun kam das neue Notebook dran. Steve musste es konfigurieren, damit es einsatzbereit war.
Das stellte sich als gar nicht so einfach heraus, denn das Betriebssystem führte ihn auf Spanisch durch die Anwendungen; überdies musste er erst lernen, mit der, an manchen Stellen, im Vergleich zu seinem deutschen Rechner unterschiedlichen Tastatur klar zu kommen. Normalerweise vermochte er blind im 10-FingerSystem in rasender Geschwindigkeit zu schreiben, doch jetzt war ihm das ñ ständig im Weg. Verflixter Nebenerwerbs-Einbrecher! Hoffentlich ärgerte sich dieser Mistkerl jetzt über Buchstaben wie ä, ö und ü, die er nicht gebrauchen konnte.
Mit dem ebenfalls geklauten Handy wollte er gar nicht erst spanische Experimente eingehen. Seine Mutter würde ihm sicherlich in Deutschland ein Neues besorgen. In seinem anderen Leben, von dem er leider immer noch nicht wusste, wie er an Erinnerungen aus der Zukunft gekommen sein konnte, hatte Kirstie sich gefreut, ihm helfen zu können. Überraschend war das Handy mit der Post angekommen; schon wenige Tage, nachdem er ihr sein Leid geklagt hatte. Heimlich hatte sie es an ihn abschicken müssen, damit sein Vater sie deswegen nicht mit sarkastischen Vorwürfen überschüttete.
Endlich hatten Stephens Bemühungen einen Punkt erreicht, an dem er sich mit dem Ergebnis zufrieden geben konnte. Morgen war auch noch ein Tag; es war ohnehin besser, ausgeruht mit dem Programmieren zu beginnen, als jetzt am Abend mit aller Gewalt halbherzig noch ein paar Code-Zeilen zu schreiben. So etwas barg Fehlerquellen.
Steve startete die Internet-Suchmaschine, um ein paar Recherchen vorzunehmen. Er erinnerte sich ganz genau an die Begebenheiten seines Zweit-Lebens, die er in der Zeitspanne kurz vor Weihnachten erlebt hatte. Das mit dem Einbrecher war bereits eingetroffen, andere Ereignisse hingegen hatten sich eindeutig verändert. Einfach, weil er keinen Motorradunfall gehabt und Lena somit nicht vom Himmel aus das Leben gerettet hatte.
In diesem Moment, an diesem Punkt seiner Überlegungen angekommen, lief es ihm eiskalt den Rücken hinunter. Ach, du Schande! Stephen hatte keine Ahnung, zu welchem genauen Datum Lena den Selbstmordversuch unternommen hatte! Die lineare Zeitschiene war während seines Aufenthaltes im Himmel überhaupt nicht existent gewesen, man konnte vor und zurückspringen, wie man es gerade brauchte. Einmal kurz Steinzeit, dann wieder nach 2004. Was, wenn der Selbstmord noch in der Zukunft lag und Lena den Versuch diesmal eben nicht am Nordseestrand, sondern hier, an der Costa Blanca, unternahm? Oder hatte er sich doch alles nur eingebildet? So etwas konnte es doch nicht geben!
Um genau das herauszufinden, saß er hier am Notebook, erinnerte er sich. »Also schauen wir mal, WIE bescheuert ich eigentlich bin. In meinem Horrortrip, Delirium oder sonstigen vollverblödeten Zustand saß ich auf exakt diesem Sofa hier, als ich im Fernsehen die Sache mit der Kometensichtung verfolgt habe. Diese Doku, genau. Als die Sache mit Apophis später richtig aktuell war, haben sie die ganze Geschichte seit der Entdeckung immer wieder in Spezial-Nachrichtensendungen aufgebauscht und durchgenudelt. Da wurde unter anderem erwähnt, dass irgendwelche Typen in Arizona im Sommer 2004 den Kometen entdeckt, dann aber wieder aus den Augen verloren haben. Na, was ist, du hinterhältiges Steinchen, bist du da oben?«
Steve gab die Suchbegriffe ein. Es war gar nicht so einfach, die Meldung zu finden, die das Observatorium herausgegeben hatte; das kam daher, dass man der Entdeckung zu diesem Zeitpunkt noch keine große Bedeutung beimaß, zumal die »Sichtung« erst einmal aus dem Blickfeld