Himmel (schon wieder). Andrea Ross

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Himmel (schon wieder) - Andrea Ross

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Rotweinflasche, die an diesem Abend nicht die letzte bleiben sollte. Es stimmte also! Dieser verdammte Komet, der 2029 mit der Auslöschung der Welt begonnen hatte – beziehungsweise das noch tun würde – der war tatsächlich dort oben. Und außer einem nach Spanien ausgewanderten Programmierer, welcher einen Joint zu viel geraucht hatte, wusste niemand Bescheid. Er konnte jetzt schlecht zu irgendwelchen Sternwarten marschieren, dort einen auf »ich weiß was« machen und erklären, dass der Weltuntergang bereits eingeleitet sei. Sonst wäre er an Weihnachten mit einer Zwangsjacke bekleidet und würde an einem Malprojekt für Schizophrene teilnehmen, vielleicht mit Thema »Wir drücken unsere Krankheit im Bild aus«.

      Das Ganze lief ziemlich aus dem Ruder. Da war ja die Abfolge der Ereignisse aus dem anderen Leben noch angenehmer gewesen, und er hatte diese schon für katastrophal gehalten. Er gestand es sich nur ungern ein, aber am meisten störte ihn die Veränderung, die Lena betraf. In DIESEM Leben würde sie ihm wohl keine Oase sein, in die er sich retten konnte, wenn es hart auf hart kam.

      »Mensch, genau – Lena! Ich frage morgen besser mal bei dieser Bedienung nach ihr. Wo die arbeitet, weiß ich ja … auch wenn Lena dieses Mal absolut nicht mein Fall ist, ich darf nicht zulassen, dass sie sich etwas antut!«

      Hoffentlich war es morgen nicht schon zu spät. Jetzt bedauerte Stephen, dass er fast zwei Flaschen Rotwein abgepumpt hatte und des Fahrens nicht mehr mächtig war. Zum Glück hatte wenigstens offensichtlich jener peinliche Abend am Strand niemals stattgefunden, an dem er Yoli, die Bedienung, eigentlich hatte verführen wollen. Zumindest hatte sie bei seinem Anblick am Morgen nach der Party keinerlei Zeichen des Erkennens gezeigt. Da war es nun nicht ganz so peinlich, dort aufkreuzen zu müssen.

      * * *

      »He, Bedienung! Was ist jetzt? Bringst du uns endlich noch eine Runde Hierbas, oder wird das heut nix mehr?!« Yoli hatte Tische wie diesen heute noch mehr satt als an anderen Tagen. Seufzend gab sie an der Bar Bescheid, doch bitte noch 7 Kräuterschnäpse für Tisch 23 einzuschenken. Für den lauten Tisch in der Ecke, an dem die besoffene Meute von tätowierten Deutschen saß. Die hatten alle schon kräftig getankt und wurden nun langsam ausfällig. Heute nervte das ganz besonders, denn Yoli war alles andere als fit. »¡Momento, por favor!« Es gab Tage, da klang dieser Standardsatz einer Kellnerin nicht einmal bei der temperamentvollen, fröhlichen Yoli freundlich.

      Und genau an diesem Abend, der so gar nicht vergehen wollte, war natürlich auch noch Lena aufgetaucht. Yoli hatte nichts gegen die Urlauberin, aber eben auch keine Zeit. Sie wollte einfach nur hier fertig werden und dann schnellstens nach Hause ins Bett, endlich einmal schlafen.

      Lena hingegen wirkte frisch und munter, vermutlich hatte sie sich im Hotel für ein paar Stunden hinlegen können. Sie saß an der Bar, quatschte ein paar Leute voll und trank für Yolis Geschmack entschieden zu viel Alkohol. Ab und zu schickte sie vorwurfsvolle Blicke in Richtung der gestressten Kellnerin, die diese wohl daran erinnern sollten, dass sie Lena schon viel zu lange alleine an der Bar sitzen ließ, anstatt sich an ihre Seite zu gesellen. Yoli hegte den berechtigten Verdacht, dass diese Lena in ihrem Leben wohl noch niemals hatte arbeiten müssen.

      Weit nach Mitternacht war es Yoli endlich gelungen, den letzten Tisch abzukassieren und die volltrunkenen Deutschen aus der Bar zu komplimentieren. Sie wischte kurz über die Tische und stellte die Stühle für die Putzfrau hoch, die morgen früh zum Dienst erscheinen würde. Der Chef hatte sich schon verabschiedet, nur Lena saß noch an der Bar und ließ den Kopf hängen. Die hatte Nerven! Wenigstens jetzt hätte sie genauso gut herkommen und ihr mit den Stühlen helfen können.

      Yoli sah genauer hin. Moment. Weinte Lena etwa? Ihre Schultern zuckten seltsam, den Kopf hatte sie in ihre Hände gestützt.

      »Lena? Alles in Ordnung mit dir? Hast du zu viel getrunken?« Mit tränenüberströmtem Gesicht sah Lena auf; die Schminke um ihre Augen war total verwischt und lief nun in zwei dicken, schwarzen Rinnsalen über ihre hohen Wangenknochen.

      »Nein! Es geht mir NICHT gut, und es wird mir auch nie wieder gut gehen!« Nach diesen Worten wurde das große schlanke Mädchen von einem weiteren Weinkrampf geschüttelt. Yoli konnte sich keinen Reim auf Lenas Zustand machen. War sie von einem der Gäste beleidigt worden, oder hatte sie irgendetwas anderes nicht mitbekommen, was Lena derart zusetzte? Normalerweise wirkte die Rothaarige auf eine seltsame und krampfhafte Weise cool und frech, ungefähr so, als probe sie für ein Theaterstück. Als sei sie in Wirklichkeit ganz anders und müsse diese neue Rolle erst einstudieren. Unbeholfen: das war das Wort, nach dem Yoli gesucht hatte! Und manchmal überzog Lena auch, wusste nicht, wo die Grenzen des guten Geschmacks lagen.

      Yoli taten die Füße weh, ihr Kopf begann zu schmerzen. Die Augen weiterhin offen zu halten, das grenzte mittlerweile an einen Kraftakt, so schwer wogen die Augenlider. Dennoch, was sollte sie tun? Sie MUSSTE Lena jetzt mit sich aus der Kneipe nehmen. Yoli nahm Lena in den Arm. »Komm, wir gehen erst einmal an die frische Luft! Dann sehen wir, dass wir dich ein wenig beruhigen, so furchtbar schlimm kann doch jetzt gar nichts auf dieser Welt gewesen sein. Wirst sehen, morgen früh sieht alles schon wieder ganz anders aus. ¿Vale?« Willenlos ließ Lena sich aus der Bar führen, setzte sich draußen auf ein Mäuerchen, während Yoli Tür und Scherengitter sorgfältig absperrte.

      Als sie sich zu Lena umdrehte, stand diese schwankend auf, hing der zierlichen Kellnerin nur Sekunden später heulend um den Hals. Schluchzte ihr nasse, bitterliche Tränen in den Blusenkragen und bettelte: »Bitte, lass mich jetzt nicht alleine, ich möchte mit dir nach Hause kommen! Bitte! Ich KANN heute Nacht nicht alleine bleiben, ich flehe dich an, nimm mich mit!«

      Auch das noch! Nichts hätte sich Yoli in diesem Augenblick weniger gewünscht, als dieses Szenario. Aber nichts hätte sie weniger gekonnt, als Lena einfach ihrem Schicksal zu überlassen. So atmete Yoli scharf ein, befreite ihren Hals von diesem schluchzenden menschlichen Collier und führte Lena zu ihrem altersschwachen Auto. Als das Sozialgen verteilt worden war, musste Yoli wohl mehrfach »Hier!!!« gerufen haben.

      * * *

      Meike Keller saß am Frühstückstisch. Um sie herum standen die stummen Zeugen eines beendeten Familienfrühstücks, welches in ihrer Familie samstags traditionell immer sehr umfangreich auszufallen pflegte. Aber ein einziges Detail unterschied sich an jenem Samstag eklatant von ähnlichen Schlemmereinsätzen – Meike, die kleine rundliche Kindergärtnerin, stand heute nicht eifrig spülend und singend am Becken, um die geräumige Wohnküche möglichst schnell wieder in einen ansehnlichen Zustand zu versetzen.

      Im Gegenteil. Tief in schwarze Gedanken versunken brütete Meike vor sich hin, sah erst auf, als ihr Mann Piet mit der Zeitung nahte, die er normalerweise genüsslich am bereits gesäuberten Tisch zu einer letzten Tasse Kaffee las.

      Als Piet bemerkte, dass er seine Zeitung wohl in diesem Chaos nicht aufschlagen würde können, zog er ein säuerliches Gesicht. Da arbeitete man die ganze Woche lang hart in seiner Schreinerei, und dann machte die Frau am Wochenende solch ein Theater wegen einer Adoptivtochter, die ihm ohnehin von Anfang an unheimlich gewesen war. Das erfüllte ihn nicht gerade mit Freude; genauer gesagt verstand er es nicht.

      »Meike, jetzt hab dich doch nicht so! Davon geht die Welt nicht unter! Lena ist erwachsen, soll sie doch jetzt selbst sehen, wie sie klar kommt. Immer hast du sie verteidigt, egal was sie gemacht hat, oder sich zumindest wie ein Opferlamm gefallen ließ. Wirst schon sehen, wenn das Geld erst alle ist, kommt die ganz schnell von selbst wieder angekrochen!«

      Piet und Meike waren schon lange verheiratet. Im Grunde schätzte Meike Piets einfache, geradlinige Art, wie er mit Menschen umging. Er war wie ein großer, starker Bär, dem seine Familie über alles ging, an den sie sich anlehnen konnte. Für ihn hatte die Existenz bombenfeste Konturen, war die Welt entweder schwarz oder weiß, dazwischen gab es nichts. Wer viel arbeitete, war eben auch viel wert. Und umgekehrt. Geisteswissenschaften

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