Himmel (schon wieder). Andrea Ross
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»Ach, du meine Güte. Psychopharmaka … die waren alle in Lenas Tasche? Himmel, dann wollte sie sich vielleicht umbringen! Was auch funktioniert hätte, wenn sie die alle eingenommen hätte. Aber da ist nur eine einzige Schachtel leer, die anderen hat sie nicht angerührt, wie es scheint.« Dr. Berner wirkte ehrlich betroffen.
Hatte er die Suizidneigung bei Lena während seinen Untersuchungen übersehen? Meike war öfters mit ihr vorbeigekommen, um sicherzugehen, dass sie keine psychische Erkrankung ausbrütete. Häufig hatte er dem Mädchen pflanzliche Beruhigungsmittel verschreiben müssen.
»Lena kam an diesem Abend völlig aufgelöst nach Hause. Sie roch nach Alkohol und Erbrochenem, die Kleidung war sandig und die Haare ganz verworren. Ich habe sie niemals zuvor in einem solchen Zustand gesehen, sie ist sonst ein sehr kontrollierter, fast schon zwanghafter Mensch. Na gut, sie IST zwanghaft. Natürlich habe ich nachgefragt, wollte unbedingt mit ihr reden. Doch sie hat komplett abgeblockt, wollte nur noch ins Bett. Und schon am nächsten Morgen war sie dann so komisch!«, schluchzte Meike. Dr. Berner griff nach Meikes Hand. »Gott, was hast du doch mit dem Mädel schon durchgemacht! So aus dem Stegreif würde ich sagen, es gibt zwei Möglichkeiten: entweder hat sie etwas derart Fürchterliches erlebt, dass sie nur noch den Ausweg des Suizid sah, der dann nachweislich schief ging; du sagst ja, sie roch nach Erbrochenem. Manchmal kommt es vor, dass in solchen Fällen der Magen die ganze Chemie und den Alkohol nicht verkraften kann, der potentielle Selbstmörder dann ständig erbricht. Ergo funktioniert es nicht, den Körper bis zum Eintreten des Todes zu vergiften. Wenn es so abgelaufen ist, muss diese Feststellung für Lena einer Katastrophe gleich gekommen sein. Stell dir vor, du willst sterben, und es klappt nicht!«
Nun war es um Meikes Selbstbeherrschung endgültig geschehen.
Sie weinte hemmungslos, quetschte mühsam ihre Begründung hervor: »Ja, sie war verzweifelt und ich war schuld! Sie hat mich wieder einmal danach gefragt, was ich über ihre verschwundene Mutter weiß. Ich habe abgewehrt, doch sie hat es dieses Mal nicht auf sich beruhen lassen. Ich wollte sie doch nur vor neuem Leid schützen! Wir stritten heftig, und auch Piet ist noch ziemlich mit ihr ins Gericht gegangen, bis sie seelisch nicht mehr konnte. Sie ist nicht konfliktfähig, und ich hätte das wissen müssen!«
Dr. Berner konnte nicht anders, er nahm die verzweifelte Meike in seine Arme, strich ihr über das hellbraune, gelockte Haar. Er versuchte zu ignorieren, wie gut sich das für ihn anfühlte; gleichzeitig wusste er, dass er von dieser Erinnerung lange zehren würde, auch wenn ihm dies bestimmt nicht gut tat. Gar nicht gut. Er seufzte.
»Meike, bitte glaube mir: du brauchst dir hierfür ganz bestimmt nicht die Schuld anzurechnen! Du hast so viel Geduld bewiesen in all den Jahren, so viel für Lena getan. In jeder Familie wird einmal gestritten, wobei dein Piet sich natürlich manchmal schon wie ein Elefant im Porzellanladen benimmt. Recht viel Einfühlungsvermögen hat er nicht, oder? Na, wie auch immer, es ist nun einmal passiert.«
»Heinrich? Du hast noch von einer zweiten Möglichkeit gesprochen …«
»Ja, genau, stimmt. Also, eventuell hat sie alles wieder erbrochen, noch bevor die Chemie allzu sehr wirken konnte. In diesem Fall wäre denkbar, dass sie aufgrund dieses neuerlichen Traumas quasi eine Persönlichkeitsveränderung durchgemacht hat, eine Art Schockreaktion. Manchmal ist so etwas nur zeitlich eingegrenzt, die Betroffenen werden wieder ganz die alten. Manchmal auch nicht, wenn sie denken, nichts mehr zu verlieren zu haben. Deine Lena ist von jeher eine Extremistin; bei solchen Charakteren steuert das Verhalten dann nach dem Trauma oft in genau die entgegengesetzte Richtung. Was ja geschehen ist. Nach dieser Phase pendelt es sich, falls wir Glück haben, irgendwann in der Mitte ein, zwischen diesen gegensätzlichen Polen ihres Verhaltens. Die zweite Möglichkeit wäre, dass sie noch mehr Tabletten mit sich geführt haben könnte. Wer garantiert uns, dass sie nicht doch mehr als diese eine Schachtel eingenommen hat? Sie könnte die Verpackungen weggeworfen haben. In diesem Fall wäre die Sache schlimmer, dieses Dreckszeug kann im Gehirn ganz schöne Schäden hinterlassen. Das wollen wir mal nicht hoffen!«
Meike klammerte sich an Dr. Heinrich Berner wie eine Ertrinkende, und dieser hielt sie allzu bereitwillig fest.
Dr. Berners Ausführungen hatten die Kindergärtnerin ganz schön erschreckt. Alles, bloß das nicht! Denn sie, Meike, rechnete sich nach wie vor die Schuld an Lenas Trauma an.
Weder der Arzt noch Meike hatte während dieser emotional aufgeladenen Unterredung bemerkt, dass sich ein Schlüssel im Türschloss der Eingangstüre drehte, diese nahezu geräuschlos aufgedrückt wurde. Anna Berner hatte an diesem Tag zufällig ihre Shoppingtour in der Nähe der Praxis ausklingen lassen und spontan beschlossen, ihren Mann direkt abzuholen, da er sonst wieder reichlich spät nach Hause kommen würde. Normalerweise war sie keine Frau, die leise Töne anschlug; so wollte sie zuerst mit der gewohnten Selbstsicherheit in die Praxis stolzieren. Allerdings hatte sie von draußen Stimmen wahrgenommen, wovon eine ihrem Heinrich gehörte, die andere einer Frau.
»Meike«, flüsterte er ihr schon fast zärtlich ins Ohr. »Es wird alles wieder gut, du wirst sehen. Wir kriegen das hin. Mir ist außerdem soeben eine dritte Möglichkeit eingefallen. Du hast mir doch mal ihre Mutter beschrieben, weißt du noch? Richtig sauer warst du, weil das so eine kalte, aufgedonnerte Schnepfe war, die mit dem Kind gar nichts anfangen konnte. Es wäre somit auch möglich, dass sie nun einfach wie ihre Mutter wird. Blut ist dicker als Wasser, sagt man!«
Mit tränennassen Augen sah Meike zu Dr. Berner auf, der sie um mehr als einen Kopf überragte. »Das würde mir aber auch nicht gefallen, Heinrich. Ich kenne und liebe sie so, wie sie war. Ich weiß ja, dass ich derzeit nichts machen kann, weil sie erwachsen ist. Handy besitzt sie keines, also kann ich sie nicht einmal anrufen. Keine Ahnung habe ich, wohin genau sie geflogen ist. Also kann ich nur abwarten. Darf ich mit ihr zu dir kommen, falls sie zurückkommt? Damit du sie dir einmal ansehen kannst?« Wieder brach Meike in Tränen aus.
»Selbstverständlich, Meike, was glaubst denn du!« Widerwillig löste sich Dr. Berner von Meike, sah ihr eindringlich in die Augen.
»Halte mich bitte auf dem Laufenden, ja? Ruf mich an, wenn du etwas von ihr gehört hast, dann überlegen wir gemeinsam, was zu tun ist.«
Die überaus blonde Frau draußen im Flur hatte bruchstückhaft genug gehört, vor allem aber eine nette Szene durch den Türspalt beobachtet. Sie würde jetzt bestimmt nicht nach Hause gehen, sondern schnurstracks zum Anwalt. Wütend rauschte Anna Berner das Treppenhaus hinunter. Flüsterte der doch dieser dicken Tussi etwas von einer »aufgedonnerten Schnepfe« ins Ohr! Na warte, der konnte etwas erleben!
Anna Berner wusste auch schon spontan, wie die kalt servierte Rache am süßesten schmecken würde. Dieser Don Juan konnte mit Unterhaltszahlungen bluten bis an sein Lebensende! Mit drei Kindern und Ehegattenunterhalt am Hals wäre sein Leben, wie er es gekannt hatte, wohl beendet. Pah, von wegen »hektischer Tag in der Praxis«! Nun endlich wusste Anna Berner, warum ihr Mann fast täglich so spät aus der Praxis gekommen war. Ausgerechnet diese plumpe Kindergärtnerin!
Und Meike Keller hätte beim Verlassen des Gebäudes schwören können, dass die Frau, die dort drüben auf der anderen Straßenseite schwungvoll in ihr Cabrio stieg, Anna Berner hieß. Sie war immer noch so schön, stellte Meike neidvoll fest.
* * *
»Nun erzähl mal, Lena. Was war denn gestern Abend mit dir los?« Yoli hatte Kaffee gekocht, Lena einen großen Pott des Muntermachers gereicht. Die saß am winzigen Küchentisch dieser winzigen Küche des winzigen Appartements, das Kellnerin Yoli in Rojales, einem winzigen Städtchen im Hinterland der Costa Blanca, alleine bewohnte. Lenas künstliche Selbstsicherheit war noch immer wie weggeblasen, still knubbelte