Compliance-Handbuch Kartellrecht. Jörg-Martin Schultze
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Nach der Gesetzesbegründung ist ein Compliance-Programm wirksam, das „alle erforderlichen Vorkehrungen“11 trifft. Richtigerweise wird auch festgehalten, dass es nicht von vorneherein gegen die Ernsthaftigkeit des Bemühens, kartellrechtliche Zuwiderhandlungen zu vermeiden, spricht, wenn es trotz des Compliance-Programms zu einer Zuwiderhandlung gekommen ist. Allerdings heißt es dann, und hier verfällt man in alte Argumentationsmuster zurück, dass bei Nicht-Aufdeckung (und Anzeige – aber der Hinweis ist gesetzeswidrig) der Zuwiderhandlung die trotz Compliance-Programm begangene Zuwiderhandlung darauf hinweise, dass ein Defizit bei der Compliance vorliege. Dieser Schluss ist falsch, genau das ist zu ermitteln. Und wenn das Bundeskartellamt bei seinen Ermittlungen zum Schluss kommt, dass die Zuwiderhandlung durch ordnungsgemäße Compliance verhindert oder wesentlich erschwert worden wäre, kann – natürlich, möchte man sagen – nur das grundsätzliche Bemühen um Compliance zu einer allenfalls geringen Bußgeldminderung führen.
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Mit diesem Regelverständnis ergibt sich für die verschiedenen Fallkonstellationen konkret Folgendes:
– Die Compliance-Defense gilt für alle Unternehmen unabhängig davon, ob sie nach § 30 OWiG oder nach § 130 OWiG für eine Zuwiderhandlung durch Mitarbeiter des Unternehmens haften.
– Die Compliance-Defense gilt für alle Unternehmen unabhängig davon, ob sie eine von Mitarbeitern begangene Zuwiderhandlung aufgedeckt haben oder nicht. Wurde die Zuwiderhandlung nicht vom Unternehmen aufgedeckt, bedarf es jedoch positiver Darlegungen zur Angemessenheit und Wirksamkeit des vorhandenen Compliance-Programms.
– Die Compliance-Defense gilt für alle Unternehmen unabhängig davon, ob sie eine aufgedeckte Zuwiderhandlung dem Bundeskartellamt anzeigen oder nicht. Das Erfordernis einer Anzeige ergibt sich aus dem Gesetz nicht.
– Die Compliance-Defense gilt für alle Unternehmen unabhängig davon, ob sie einen Kronzeugenantrag gestellt haben; bei einem erfolgreichen Kronzeugenantrag als erster bedarf es dank der Bußgeldreduzierung auf Null der Compliance-Defense jedoch nicht mehr.
– Ist die Wirksamkeit des Compliance-Programms nicht durch die Aufdeckung der Zuwiderhandlung nachgewiesen, muss das Bundeskartellamt die objektiv erforderlichen Vorkehrungen ermitteln und prüfen, ob diese (i) über das vorhandene Compliance-Programm hinausgehen und sie (ii) die begangene Zuwiderhandlung verhindert oder wesentlich erschwert hätten.12 Ist beides der Fall, kommt nur noch eine Honorierung des generellen Bemühens durch eine wohl allenfalls geringfügige Senkung des Bußgelds in Betracht.
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Ein Wermutstropfen zum Schluss: Die Compliance-Defense gilt bei Zuwiderhandlungen von Mitarbeitern, nicht bei Zuwiderhandlungen der Geschäftsleitung selbst. Wegen des „top-down“-Grundsatzes13 kann ein Compliance-Programm nicht ordnungsgemäß sein, wenn der „oberste Chef“ selbst der zuwiderhandelnde Mitarbeiter ist. Hierauf weist die Gesetzesbegründung zu Recht hin. Aber auch insoweit verbieten sich vorschnelle Schlussfolgerungen: Wird das Unternehmen durch ein Kollegialorgan geleitet, trifft die „Chef-Regel“ nur auf alleinvertretungsberechtigte Vorsitzende des Kollegialorgans zu, also z.B. auf den Vorstandsvorsitzenden oder den CEO. Wird die Zuwiderhandlung dagegen von einem nicht alleinvertretungsberechtigten Mitglied eines solchen Kollegialorgans begangen – und selbst wenn dieses eine herausgehobene Stellung einnimmt –, beeinträchtigt dies allein die Wirksamkeit des Compliance-Programms nicht. Mit Gesamtvertretung hätte der Vorstand in diesem Beispiel sich ausreichend gegen die kriminelle Energie eines Einzelnen abgesichert.
1 BGBl. I 2021, 2ff. 2 Einige Gedanken zur Verteidigung finden sich in Rn. D 52ff. 3 Darauf weisen auch Ritz/Weiß, NZKart 2020, 364, 370 hin. 4 Compliance-Programme werden von der Kommission nach wie vor nicht als mildernder Umstand bei der Bußgeldbemessung berücksichtigt, siehe hierzu Steger/Schwabach, WuW 2021, 138, 139f. und Rn. B 46. 5 Holzhäuser/Blome, BB 2020, 1232, 1233. 6 Es weht ein „Wind of Change“, wie Ritz/Weiß, NZKart 2020, 364 feststellen. Siehe auch die Hinweise zu den Ländern Italien, Großbritannien, Frankreich, die USA und Schweiz unter Fn. B 38. 7 BGH, Urt. v. 9.5.2017, Az. 1 StR 265/16, BB 2017, 1931 (mit Anm. Behr). 8 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Energie, BT-Drucks. 19/25868, S. 123. 9 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Energie, BT-Drucks. 19/25868, S. 122. 10 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Energie, BT-Drucks. 19/25868, S. 122. 11 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Energie, BT-Drucks. 19/25868, S. 122. 12 Die bisherigen Vorbehalte des Bundeskartellamtes gegen eine Prüfung der Wirksamkeit von Compliance-Programmen (Tätigkeitsbericht 2013/2014, BT-Drucks. 18/5210, S. 13) greifen – worauf Seeliger/Gürer, WuW 2020, 634, 635 re.Sp. zu Recht hinweisen – nicht mehr. Schon nach § 8 Abs. 1 S. 1 WRegG muss das Bundeskartellamt sich die entsprechende Expertise aneignen. 13 Siehe unten Rn. C 4ff.
Teil B Kartellrechtliche Risiken im Unternehmen
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Am Anfang aller Compliance-Bemühungen steht die Bestandsaufnahme: Das Unternehmen muss sich darüber klar werden, mit wem es in welcher Weise im Rahmen seiner Geschäftsprozesse agiert, bei welchen Tätigkeiten Kartellrechts-Verstöße vorkommen (könnten) und welche Bereiche relativ unkritisch sind.
2
Kartellrechts-Compliance hat zum Ziel, Unternehmen vor Kartellrechts-Risiken zu schützen. Wie bei jeder Schutzmaßnahme ist vor Einführung eines kartellrechtlichen Compliance-Programms zu entscheiden, ob
– die Risiken so gering sind, dass sie vom Unternehmen akzeptiert und getragen werden können oder ob
– das Einführen von konkreten Schutzmaßnahmen angezeigt ist.
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Selbstverständlich kann eine solche Entscheidung nur dann korrekt getroffen werden, wenn Risiken und Konsequenzen zutreffend beurteilt werden. Für die Einhaltung von Kartellrechtsregeln ist das weit weniger intuitiv zu bewerkstelligen als für andere Rechtsbereiche. Dies liegt schlicht daran, dass Kartellrecht nicht abstrakt befolgt werden kann, sondern die Regeln je nach Marktumfeld, Marktposition und Geschäftsmodell eines Unternehmens andere sind. Grundsätzliche Compliance-Maßnahmen, wie insbesondere Kartellrechtsschulungen sind in einem Unternehmen also schon deshalb unverzichtbar, weil sie eine zutreffende Sachverhalts- und Risikoerfassung erst möglich machen.
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Im Anschluss an das Studium der Grundbegriffe des Kartellrechts in den Abschnitten I. bis IV. kann der Leser unmittelbar in die Analyse