Compliance-Handbuch Kartellrecht. Jörg-Martin Schultze
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I. Einführung in das Kartellrecht
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Kartellrecht schützt den Wettbewerb und damit das freie Kräftespiel von Unternehmen auf dem Markt. Das System der Marktwirtschaft sieht funktionsfähigen Wettbewerb gleichsam als sein Herzstück oder seinen Motor an: Verbraucher profitieren von diesem System, weil Unternehmen um die Verbrauchergunst konkurrieren müssen. Der Wettbewerbsdruck führt dazu, dass Abnehmer sich aus einer breiten Angebotspalette diejenigen Güter und Leistungen auswählen können, die am ehesten ihren Vorstellungen von guter Qualität zu einem angemessenem Preis-Leistungs-Verhältnis entsprechen. Unternehmen, die im Wettbewerb bestehen, werden mit höheren Gewinnen belohnt. Unternehmen, deren Angebot nicht den Marktanforderungen entspricht, werden mit Verlusten oder gar mit ihrem Ausscheiden aus dem Markt bestraft.1
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Ein besonders wichtiger Faktor ist dabei der letztlich nur durch ausreichenden Wettbewerb geförderte, ständige Anreiz zur Innovation. Oder mit den Worten des Präsidenten des Bundeskartellamtes, Andreas Mundt, in einem Interview der Funke Mediengruppe am 18.1.2020:
„Neben den überhöhten Preisen ist das Schlimmste an Kartellen und Monopolen, dass die Innovationstätigkeit der Unternehmen erschlafft. Ohne Wettbewerb geben sich die Firmen keine Mühe. Ein Beispiel: Als Microsoft seinen „Internet Explorer“ an den Markt brachte, erfuhr dieser über fünf Jahre kein einziges Update. Warum? Weil die Konkurrenz fehlte. Dann kam der „Mozilla Firefox“. Heute sind wöchentliche Updates bei vielen Apps die Regel. Wettbewerb ist für Fortschritt wichtig – und Kartelle schalten diesen aus.“
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Das Kartellrecht schützt den Wettbewerb, indem es Handlungsweisen von Unternehmen verbietet oder begrenzt, von denen anzunehmen ist, dass diese wirksamen Wettbewerb behindern oder sogar ganz ausschalten.
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Das europäische sowie das deutsche Kartellrecht stützen sich – wie viele andere Kartellrechtsordnungen weltweit – dafür im Wesentlichen auf zwei Grundsäulen: Die eine Säule begründet die unternehmerische Verhaltenskontrolle in Form des Kartellverbots2 und des Verbots missbräuchlichen Verhaltens für Unternehmen mit Marktmacht,3 die andere Säule umfasst die Strukturkontrolle für die Übernahme von Unternehmen oder Vermögenswerten in Form der Fusionskontrolle.4
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Der Fokus von kartellrechtlichen Compliance-Maßnahmen liegt regelmäßig auf der ersten Säule, also der kartellrechtlichen Verhaltenskontrolle. Hier sind die risikorelevanten Sachverhalte des Unternehmensalltags angesiedelt, also Vorgänge, bei denen Unternehmensmitarbeiter das Unternehmen täglich in kartellrechtliche Gefahren bringen können. Transaktionen sind dagegen weit weniger alltäglich und werden im Unternehmen regelmäßig von Anfang an rechtlich begleitet. Die mit einem Transaktionsprozess verbundenen kartellrechtlichen Risiken erfahren damit naturgemäß eine höhere rechtliche Aufmerksamkeit. Auch wenn Compliance-Schulungen in diesem Bereich nicht zu vernachlässigen sind, betreffen sie regelmäßig einen eher kleinen Mitarbeiterkreis, der vor allem dahingehend sensibilisiert werden muss, rechtzeitig an das Kartellrecht und die Einbeziehung kartellrechtlicher Expertise zu denken.
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Die Regeln zur kartellrechtlichen Verhaltenskontrolle sind direkt im Vertrag zur Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) und damit im sog. Primärrecht der Europäischen Union (EU) angesiedelt. Die Europäische Fusionskontrolle findet sich nicht direkt im AEUV, sondern in einer eigenen Verordnung.5 Europäisches Kartellrecht ist unmittelbar geltendes Recht in allen Mitgliedstaaten der EU und gilt – über entsprechende Abkommen6 – auch in den EFTA-Staaten Island, Norwegen und Liechtenstein und damit im gesamten Europäischen Wirtschaftsraum (EWR). Oberste Europäische Kartellbehörde ist die Europäische Kommission (Kommission), die mit der Generaldirektion Wettbewerb über eine Einheit von etwa 800 Mitarbeitern verfügt, die sich mit der Durchsetzung des Kartellrechts befasst. In der EU verfügt zudem jeder Mitgliedstaat über eine eigene nationale Kartellrechtsordnung, die weitgehend an die Kartellrechtsordnung der EU angepasst ist. Das deutsche Kartellrecht ist im seit 1957 geltenden Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) verankert. Die deutsche Verfolgungsbehörde ist das Bundeskartellamt mit Sitz in Bonn, mit derzeit ca. 360 Mitarbeitern. Obgleich die Behörde formal dem Bundeswirtschaftsministerium unterstellt ist, agiert sie unabhängig und nicht weisungsgebunden.
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Derzeit haben weltweit über 120 Länder eigene Regeln zur Durchsetzung des Kartellrechts. Auch wenn es viele Prinzipien gibt, die in allen Rechtsordnungen enthalten sind, weicht die konkrete Ausgestaltung der Kartellrechtsgesetze sowie deren Umsetzung in einigen Punkten signifikant voneinander ab. Die Ausführungen in diesem Buch befassen sich allein mit europäischem und deutschem Kartellrecht, sofern nicht ausdrücklich auf eine andere Rechtsordnung Bezug genommen ist.
1 BKartA, Informationsbroschüre „Offene Märkte – Fairer Wettbewerb“, S. 10. 2 Siehe hierzu ausführlich unter Rn. B 95. 3 Siehe hierzu ausführlich unter Rn. B 202. 4 Siehe hierzu ausführlich unter Rn. B 288. 5 EG-Fusionskontrollverordnung VO Nr. 139/2004, ABl. EU 2004 L 24/1. 6 Art. 53, 54 des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum, ABl. EG 1994 L 1/3.
II. Anwendbarkeit von Kartellrecht
1. Auswirkungsprinzip
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Die Anwendbarkeit deutschen und europäischen Kartellrechts bestimmt sich nach dem Auswirkungsprinzip. Dies gilt im Übrigen für die meisten Kartellrechtsordnungen weltweit und bedeutet: Weist eine Vereinbarung oder Verhaltensweise ein Potenzial zur spürbaren Wettbewerbsbeschränkung in der EU/in Deutschland auf, ist das europäische bzw. deutsche Kartellrecht anwendbar. Dies gilt unabhängig vom Willen der Vertragsparteien oder der von diesen getroffenen Rechtswahl. Irrelevant ist ebenfalls, ob ein oder alle an einer beschränkenden Vereinbarung oder einer kartellrechtswidrigen einseitigen Verhaltensweise beteiligten Unternehmen ihren Sitz in Deutschland oder der EU haben, sofern ihr Verhalten den deutschen bzw. den europäischen Markt betrifft. Umgekehrt bedeutet dies auch: Wettbewerbsbeschränkungen, die kein Potenzial haben, sich auf den Wettbewerb in der EU auszuwirken, fallen nicht in den Anwendungsbereich dieser Kartellrechtsordnung, ggf. aber unter die Kartellrechtsregeln eines anderen Landes. Abgrenzungshilfen für die Anwendbarkeit deutschen und europäischen Kartellrechts bieten die entsprechenden Leitlinien der Behörden.7
2. Verhältnis zwischen europäischem und deutschem und sonstigem nationalen Kartellrecht innerhalb der EU
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Deutsches und europäisches Kartellrecht sind grundsätzlich nebeneinander anwendbar, wobei die Anwendung europäischen Kartellrechts im Konfliktfall vorgeht.8
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Hat eine Verhaltensweise rein lokale Auswirkungen auf einen Mitgliedstaat der EU, fällt sie mangels Spürbarkeit der Beeinträchtigung