Compliance-Handbuch Kartellrecht. Jörg-Martin Schultze
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Compliance-Handbuch Kartellrecht - Jörg-Martin Schultze страница 7
23
Es gibt dennoch einige Vertragskonstellationen, in denen die Europäische Kommission sowie das Bundeskartellamt bestimmten Beschränkungen eine wettbewerbsbeschränkende Wirkung gänzlich absprechen, da es sich bei diesen Beschränkungen um sog. Nebenabreden handelt. Dies sind Beschränkungen, die eine Annexfunktion für eine kartellrechtlich neutrale Vereinbarung einer bestimmten Art einnehmen und notwendig sind, um deren Bestehen zu ermöglichen.18
24
Hiervon zu unterscheiden sind Situationen, in denen eine Wettbewerbsbeschränkung vorliegt, diese aber nicht spürbar ist und das Verhalten deshalb nicht in den Anwendungsbereich der kartellrechtlichen Verbotsnormen fällt. Sowohl die Europäische Kommission als auch das Bundeskartellamt haben Leitlinien herausgegeben, wann es aus Sicht der Verfolgungsbehörde an einer solchen Spürbarkeit fehlt, die Behörden also nicht tätig werden.19
2. Unternehmen
25
Kartellrecht richtet sich ausschließlich an Unternehmen. Dabei legen sowohl das europäische als auch das deutsche Kartellrecht einen funktionalen Unternehmensbegriff zugrunde, der „jede eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einheit, unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung“20 erfasst. Der Unternehmensbegriff des Kartellrechts setzt damit lediglich eine wirtschaftliche Betätigung voraus und ist damit keineswegs auf Unternehmen im engeren Sinne einer juristischen Person beschränkt. Auch die öffentliche Hand als Körperschaft des öffentlichen Rechts ist ein Unternehmen, wenn sie sich wirtschaftlich und nicht rein hoheitlich betätigt. Gleiches gilt für natürliche Personen, sofern diese z.B. als Einzelhandelskaufmann, in freien Berufen, als Erfinder, Künstler oder Berufssportler wirtschaftlich tätig sind, d.h. nicht als Arbeitnehmer oder für den eigenen persönlichen Haushalt agieren.21
26
Das Kartellrecht versteht unter einem Unternehmen stets die gesamte wirtschaftliche Einheit, also die Unternehmensgruppe oder den Konzern. Aus Unternehmenssicht positiv ist, dass konzerninterne Absprachen und Verhaltensweisen dann dem Beurteilungsmaßstab durch das Kartellrecht entzogen sind, wenn es den einzelnen Konzerntöchtern an Entscheidungsautonomie fehlt, da sie als beherrschte Konzernunternehmen anzusehen sind. Aus Unternehmenssicht negativ ist, dass das Kartellrecht für Umsatz- und Marktanteilsbetrachtungen stets den gesamten Konzern und nicht nur die einzelne agierende Konzerntochter betrachtet. Dies gilt im europäischen Kartellrecht auch für die Zurechnung kartellrechtlich relevanten Verhaltens. Hier sind im deutschen Kartellrecht mit der Schließung der sog. „Wurstlücke“22 durch den neuen § 81 Abs. 3a GWB wichtige Anpassungen erfolgt, um eine bis dato bestehende Haftungslücke zu schließen.23 Auch im deutschen Kartellrecht ist somit der Sache nach eine Konzernhaftung für Kartellrechtsverstöße eingeführt worden.24 Danach sind jetzt bei einheitlich geleiteten Unternehmen Geldbußen nicht nur gegen handelnde Tochtergesellschaften, sondern auch gegen ihre lenkenden Konzernmütter möglich, ohne dass diese durch eigene Organe oder Repräsentanten i.S. § 30 Abs. 1 Nr. 1 bis 5 GWB tatbeteiligt waren. Zum anderen ist für die Fälle der Rechtsnachfolge und wirtschaftlichen Nachfolge durch § 80 Abs. 3b und c GWB die Haftung für Rechtsnachfolger spürbar verschärft worden. Neben der erweiterten Haftung von Gesamtrechtsnachfolgern sind nunmehr nach deutschem Kartellrecht erstmals auch gewisse Vermögensverschiebungen und Umstrukturierungen haftungsbegründend. Schließlich wurde mit § 81a GWB auch eine Ausfallhaftung für die Muttergesellschaft eingeführt, wenn die konzernangehörige Tätergesellschaft nach der Bekanntgabe der Einleitung des Bußgeldverfahrens erlischt oder ihr Vermögen so verschoben wird, dass ihr gegenüber keine Geldbuße mehr festgelegt werden kann.
3. Relevanter Markt und Marktabgrenzung
27
Die Abgrenzung des relevanten Marktes ist für die kartellrechtliche Beurteilung von Sachverhalten in zweifacher Hinsicht relevant: Zum einen folgt daraus die Bestimmung des Wettbewerbsverhältnisses zwischen den handelnden Unternehmen, zum anderen ist der relevante Markt die Bezugsgröße zur Ermittlung der Marktstellung eines Unternehmens. Wettbewerbsverhältnis und Marktanteile wiederum entscheiden darüber, nach welchen Grundsätzen eine kartellrechtliche Verhaltensweise zu beurteilen ist.
28
Die kartellrechtliche Marktabgrenzung erfolgt stets in sachlicher sowie in räumlicher, seltener auch in zeitlicher Hinsicht. Der sachlich relevante Markt oder Produktmarkt wird nach dem sog. Bedarfsmarktkonzept ermittelt. Zu einem Markt gehören demnach alle Produkte oder Dienstleistungen, die von der Marktgegenseite im Hinblick auf ihre Eigenschaften, Preise und ihren Verwendungszweck als austauschbar angesehen werden.25 Als Hilfsmittel bedienen sich die Behörden dabei zum Teil des sog. „SSNIP“-Tests. Dieser fragt, ob Abnehmer bei einer kleinen, aber signifikanten und nicht nur vorübergehenden Preiserhöhung (small but significant and non-transitory increase in price) von z.B. angenommenen 5–10 % von einem Produkt zu einem anderen wechseln würden. Ist dies der Fall, ist anzunehmen, dass die Produkte einem Markt angehören. Der SSNIP-Test ist in der Praxis allerdings nur schwer anwendbar.26 Bereits die Frage, ob der Preisfaktor aus Abnehmersicht tatsächlich die entscheidendste Rolle spielt oder ob andere Wettbewerbsparameter mindestens ebenso wichtig sind, ist branchen- und produktspezifisch durchaus unterschiedlich.
29
In räumlicher Hinsicht gehört zu einem relevanten Markt das Gebiet, in dem die beteiligten Unternehmen die fraglichen Produkte oder Dienstleistungen anbieten, in dem die Wettbewerbsbedingungen hinreichend homogen sind und das sich von benachbarten Gebieten durch spürbar unterschiedliche Wettbewerbsbedingungen unterscheidet.27
30
In der Praxis führt für eine zutreffende Marktabgrenzung letztlich kein Weg daran vorbei, in einem Gespräch mit einem Produktexperten herauszuarbeiten, welche Produkte oder Dienstleistungen tatsächlich Wettbewerbsdruck auf die unternehmenseigenen Produkte oder Tätigkeiten ausüben. Mit diesem Gespräch geht die Sichtung und Überprüfung der bereits im Unternehmen verwendeten internen Marktüberlegungen, Branchenstatistiken oder sonstigen Materialien voraus, die für die derzeitige Bestimmung der Marktposition verwendet werden. Diese Materialien können dann mit vorhandenen Entscheidungen von Kartellbehörden in der Branche verglichen werden. Regelmäßig bilden Fusionskontrollentscheidungen dabei einen ersten Anhaltspunkt, da hier die umfangreichste Fallpraxis vorhanden ist. Dieser Blickwinkel ist hilfreich, darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die dort vorgenommene Marktabgrenzung für die Überprüfung von Verhaltensweisen nach dem Kartell- oder Missbrauchsverbot oft nur einen Ausgangspunkt bildet: Die Marktabgrenzung kann gerade im Zusammenhang mit der Missbrauchsaufsicht in der Praxis oft bedeutend enger ausfallen, als dies für einen im Kartellrecht nicht geschulten Mitarbeiter den Anschein haben mag. Dies hat dann unmittelbare Auswirkungen auf die Bestimmung der Marktposition im relevanten Markt und daran anknüpfender, besonderer Verhaltensregeln für das Unternehmen.
31
An dieser Stelle können nur die Grundprinzipien der Marktabgrenzung angerissen werden: Die richtige Marktdefinition ist eine der zentralen Fragen des Kartellrechts und als solche sowohl rechtlich, insbesondere aber auch ökonomisch, nur anhand des konkreten Sachverhalts zu beantworten. Unternehmen sind gut beraten, diese Marktanalysen sorgfältig und unter Einbeziehung anerkannter Kartellrechtsgrundsätze vorzunehmen. Denn ob die Marktabgrenzung eines Unternehmen letztlich von den Behörden nachvollzogen wird, zeigt sich erst im Rahmen eines konkreten Verfahrens: Die Behörden verfügen über weitreichende Ermittlungsbefugnisse, zu denen eine eigene Markterhebung mittels umfassender Befragung von Wettbewerbern und Abnehmern zählt. Entsprechende Daten