Kriminologie. Tobias Singelnstein
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[1]1. KAPITEL WAS IST UND WAS WILL DIE KRIMINOLOGIE?
§ 1 Annäherung an Aufgabe und Gegenstand
I. Kriminologie
1 Zu verstehen, was Kriminologie ist, scheint simpel: Wir greifen uns Bücher, die das Wort im Titel tragen, blättern in ihren Inhaltsverzeichnissen, lesen das eine oder andere. Unterstellt, wir hätten alle diese Bücher vollständig gelesen: Wüssten wir dann, was Kriminologie ist? Wohl kaum, denn das Fach existiert nicht in einem abgeschlossenen Bestand von gedruckten Informationen, es entwickelt sich, besteht in einem fortwährenden Prozess des Sammelns und Systematisierens von Wissen, des Revidierens vorhandener Vorstellungen, der Gewinnung neuer Erkenntnis. Was aber ist an solchem Wissen und den Praktiken seiner Gewinnung spezifisch kriminologisch?
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Kriminologie bedeutet wörtlich Lehre von der Kriminalität. Erstmals in einem Buchtitel des italienischen Juristen Raffaele Garofalo (1852-1934) so benannt1, akkumuliert die Disziplin ein forschungsbasiertes Expertenwissen. Dieses Wissen unterscheidet sich von den Inhalten alltäglicher, moralischer und populistisch-politischer Diskurse durch seine Ansprüche an eine von der wissenschaftlichen Gemeinschaft anerkannte Vernunft. Anders als etwa die Naturwissenschaften hat die Kriminologie kein Autoritätsmonopol über ihr Fachthema. Sie agiert vielmehr in einem Umfeld, das von unüberprüften Alltagsverständnissen und Vorurteilen gegenüber Kriminalität geprägt ist und diesen oft den Vorzug vor Expertenwissen gibt.
3 Die Kriminologie thematisiert – anders als die normative Strafrechtswissenschaft – Kriminalität als Realphänomen. Es geht um Geschehensabläufe von denen sich sagen lässt: Es ereignet sich2. Von der auch mit der Kriminalitätswirklichkeit befassten Kriminalistik unterscheidet sich die Kriminologie durch ihre größere Distanz [2] zum Kriminaljustizsystem. Die Kriminalistik verschreibt sich ausdrücklich der fallbezogenen Vorbeugung und Aufdeckung von Straftaten. Sie versteht sich als dienende Hilfswissenschaft, insbesondere der Strafverfolgung, wird an Polizeischulen gelehrt und ist in Einrichtungen der Polizei und der Gerichtsmedizin institutionalisiert. Dem gegenüber bestimmt sich die Kriminologie als akademische Wissenschaft, welche insbesondere die Funktionsweise und die Wirksamkeit des Kriminaljustizsystems zur Kriminalitätsbearbeitung zum Thema macht. Sie nimmt daher gegenüber der Strafrechtspraxis eine Art Metaperspektive ein, die sich vom Anliegen der Kriminalitätsbearbeitung entfernt.
4 Kriminologische Bezugswissenschaften wie etwa Kriminalsoziologie, -psychologie, -biologie und dergleichen fokussieren bestimmte Bereiche der sozialen Wirklichkeit: Die Soziologie die gesellschaftlichen Beziehungen3, die Psychologie das menschliche Verhalten und Erleben und die Biologie die naturgesetzlichen Grundbedingungen des (menschlichen) Lebens. Bei der Kriminologie gibt es keinen solchen fachspezifischen Bereich, sondern ein umfassend auf Kriminalität bezogenes Erkenntnisanliegen, das sich der Methoden und Ergebnisse sämtlicher Bezugsfächer bedient. Insofern ist nicht von einem eigenständigen spezifisch „kriminologischen“ Wissensbestand auszugehen. Als Fach, das eine gegenstandsbezogene interdisziplinäre Perspektive einnimmt, ist es multiperspektivisch, disparat und den Einflüssen des Zeitgeists über den jeweils maßgeblichen fachspezifischen Bezug ausgesetzt.
5 Die Kriminologie ist gegenüber ihren Bezugswissenschaften organisatorisch und institutionell eigenständig. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts wird das Fach weltweit an Universitäten in der Untergraduierten- und Postgraduiertenausbildung unterrichtet. Zahllose universitäre Institute, Departemente, Colleges sowie nationale und internationale Vereinigungen wie die International Society for Criminology sind ihm gewidmet. Zudem existieren in den Führungsetagen der Sicherheitsinstitutionen, etwa beim FBI und bei internationalen Instanzen (UNO, Europarat), kriminologische Forschungsdienste4. Diese Selbstständigkeit verdankt die Kriminologie freilich nicht der Kohärenz ihres Fachwissens, sondern der gesellschaftlichen und politischen Bedeutung des sich auf Kriminalität richtenden Erkenntnisinteresses.
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Die intellektuelle Originalität des Fachs ist hingegen umstritten. Die Kriminologie pflegt ein bestimmtes Genre des Diskurses über Kriminalität, welches sich um eine theoriegeleitete, empirisch geprüfte, nicht moralisch aufgeladene Argumentation bemüht. Es organisiert in diesem Sinne die Zusammenkunft von Forschern, welche [3] dieses Bemühen und das Interesse für das Thema Kriminalität teilen. Das scheinbar einheitliche kriminologische Forschungsfeld ergibt sich indes aus bezugswissenschaftlichen Zugängen, die nebeneinander relativ unabhängige Versionen des Fachs produzieren. Ob in der Diversität der Perspektiven überhaupt ein einheitliches Fach erkennbar ist, wird bezweifelt – speziell von Forschenden, die sich theoretisch stark an einer bestimmten Grundlagendisziplin orientieren.5 Demgegenüber beschwören andere – die zumeist um Einflussnahme auf die Strafrechtspraxis bemüht und darum am „Gütesiegel“ fachlicher Eigenständigkeit interessiert sind – die Unabhängigkeit und Eigenart der Kriminologie mit ihrem „vereinigten Wissensbestand“6.
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Indem wir der historischen Entwicklung des Fachs nachspüren, werden die Muster der Verteilung und Streuung wissenschaftlicher Aussagen über Kriminalität und gesellschaftliche Reaktionen darauf in der kriminologischen Ideengeschichte sichtbar (→ § 4). Später wird von Interesse sein, wie die Themen, die das zerstückelte Feld der Kriminologie teilweise dicht und andernorts lückenhaft füllen, mit allgemeineren Fragestellungen und Bezugsthemen in Verbindung stehen: Defizite der biologischen Ausstattung des Menschen, differente Lernumfelder, soziale Chancenungleichheit usw. (→ 2. Kap.).
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Die Kriminalität markiert einen „sozialen Problembereich“, der mit Dramatik ausgestattet ist und mit Handlungsbedarf assoziiert wird. Als Wissenschaft über etwas, das ein Übel darstellt und gegen das etwas unternommen werden sollte, ist die Kriminologie von gesellschaftlichen Problemwahrnehmungen beeinflusst und gibt ihrerseits Impulse für deren Inhalte. Soweit die derzeitige Gesellschaft aus verschiedenen zu erörternden Gründen (→ § 24) mehr als früher darauf angewiesen ist, die Zukunft zu beherrschen, Risiken zu