Ius Publicum Europaeum. Martin Loughlin
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Der Aufstieg des Policeyrechts geht einher mit dem Niedergang des Rechtsschutzes durch das Reichskammergericht.[105] Der regelmäßige Ausschluss gerichtlichen Rechtsschutzes gegen Akte des Landesherrn begründet die fundamentale Bedeutung der Trennung von öffentlichem Recht und Privatrecht, die, obwohl inzwischen von gänzlich anderer Funktion, die Rechtskultur in Deutschland weiterhin tief prägt.[106] Nicht zuletzt wegen des regelmäßigen Ausschlusses des gerichtlichen Rechtsschutzes bildet das Policeyrecht ein administratives „Steuerungsrecht“ par excellence.
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Gewiss ist die Epoche des Absolutismus überwunden; ein Nachglimmen des frühen Begriffs findet sich aber durchaus im europäischen Rechtsraum. Zu erinnern ist etwa an die Politiken des Dritten Teils des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), die zwar weder Erziehung noch Beglückung, aber doch gesellschaftliche Steuerung und Transformation bezwecken und denen gegenüber der Einzelne sich bisweilen nur mühsam als Rechtssubjekt positionieren kann;[107] zu erwähnen sind weiter die internationalen policies im Rahmen von global governance, die das Recht im europäischen Rechtsraum zunehmend prägen. Insbesondere der zeitgenössische Begriff der „good governance“ bezeichnet dabei in nicht gänzlich unähnlicher Weise das Wirken vermeintlich aufgeklärter überstaatlicher Bürokratien.[108] Diese Politiken, man denke an die PISA-Politik oder den Bologna-Prozess, steuern und transformieren, aber das steuernde und verantwortliche Subjekt ist nicht nur unverletzlich wie der Landesherr, sondern sogar oft unsichtbar und unfassbar. Die liberaldemokratische Einbindung der entsprechenden Akteure erscheint heute mitunter ebenso unrealistisch wie vielen Zeitgenossen eine entsprechende Einbindung der Machthaber im 18. Jahrhundert.
b) Das Verwaltungsrecht als Umsetzung des konstitutionellen Rechtsstaates
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Von Vertretern einer steuerungsorientierten Konzeption des Verwaltungsrechts wird das Steuerungsrecht des 18. Jahrhunderts heute allenfalls als frühe Vorstufe gewertet. Das Policeyrecht weist in der Tat mindestens zwei wesentliche Defizite auf: die ideologische Ausrichtung auf die Erziehung und Beglückung des Untertans sowie das regelmäßige Fehlen gerichtlichen Schutzes. Vor diesem Hintergrund taucht der Begriff Verwaltungsrecht auf. Er steht für Bemühungen, die überkommene Konstellation zu überwinden; er hat eine transformatorische, ja zumindest partiell[109] emanzipatorische Absicht. Den gemeinsamen Nenner der diversen Konstruktionen bildet die Anerkennung des betroffenen Privaten als Rechtssubjekt durch Stellen, die über Hoheitsmacht verfügen.[110] Durch diese Anerkennung mutiert der Untertan zum Bürger. Von hieraus eröffnet sich eine bedeutende Perspektive auf den europäischen Rechtsraum, denn eine vergleichbare Entwicklung soll sich in neuer Form im europäischen Rechtsraum wiederholen und ist noch nicht abgeschlossen.[111] Mit Blick auf die internationalen Bürokratien, die in den europäischen Rechtsraum hineinwirken, hat sie kaum begonnen.[112]
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Der Kampf um Anerkennung im 19. Jahrhundert als Teil der konstitutionalistischen Bewegung lässt sich nur vor dem Hintergrund der Französischen Revolution und der französischen Besatzung Deutschlands verstehen. Zwar verändert diese Zäsur das Policeyrecht als ein Instrument des Landesherrn[113] nicht sofort, zumal es ein wesentliches Instrument der tiefgreifenden Reformen des beginnenden 19. Jahrhunderts war. Die legitimatorische Unhaltbarkeit der dem Policeyrecht zugrunde liegenden Konzeption des Verhältnisses von Staatsmacht und Individuum wird jedoch alsbald klar. Selbst konservative Denker akzeptieren dies mit dem Begriff des Rechtsstaates.[114] Allerdings bleiben Grad und Institutionen dieser Emanzipation lange umstritten, und es wäre ein Irrtum, die Entwicklung im 19. Jahrhundert als linearen Fortschrittsprozess zu deuten. Insoweit sei nur an die Epochen der Restauration in der ersten und des Neoabsolutismus in der zweiten Jahrhunderthälfte erinnert. Dies sollte man auch bedenken, wenn Rechtsstaat und Verwaltungsrecht des 19. Jahrhunderts als liberal bezeichnet werden:[115] Angesichts zahlreicher autoritärer und undemokratischer Momente kann eine solche Bezeichnung, zumindest in der Perspektive des Freiheitsverständnisses des Grundgesetzes,[116] nicht überzeugen.[117] Der Kampf um Anerkennung begann im 19. Jahrhundert, kam aber dort nicht zu einem siegreichen Abschluss.
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Daher etablieren sich auch erst in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts die Eckpunkte, aus denen das Verwaltungsrecht schrittweise zu einem rechtsstaatlichen Verwaltungsrecht geformt wird. Der Begriff Policeyrecht wandert in das historische Kapitel der Verwaltungsrechtslehrbücher, zumeist mit der Aufgabe, den neuen Schlüsselbegriff, das rechtsstaatliche Verwaltungsrecht, besonders hell strahlen zu lassen. Das allumfassende Policeyrecht schrumpft zum Polizeirecht der Gefahrenbekämpfung, und dies produziert die wichtigsten Fälle des rechtsstaatlichen Verwaltungsrechts – etwa das berühmte Kreuzberg-Urteil des Preußischen Oberverwaltungsgerichts.[118] Gewiss wäre es falsch, nun ein „Weniger“ an Verwaltung anzunehmen; mit dem gewaltigen Aufbau bürokratischer Institutionen verstärkt sich der staatliche Zugriff auf die Bürger. Aber immerhin beginnt in einem Bereich eine rechtsstaatliche Rationalisierung, auf denen das heutige Verwaltungsrecht aufbaut.
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Dreh- und Angelpunkt dieses Verwaltungsrechts ist das bereits skizzierte, demokratisch kupierte Rechtsstaatsprinzip.[119] Entgegen materiellen, sogar demokratisch inspirierten Ansätzen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzt sich in der zweiten Hälfte ein formales Verständnis des Rechtsstaates durch.[120] „Der Rechtsstaat ist der Staat des wohlgeordneten Verwaltungsrechts“.[121] Es ist für das deutsche verwaltungsrechtliche Denken der Zeit bezeichnend, wenn Otto Mayer schreibt: „Es handelt sich wesentlich nur um zwei Gewalten: die gesetzgebende und die vollziehende. Die sogenannte richterliche, die man gern noch unterscheidet, hat keine selbständige Bedeutung.“[122] Hierin scheint zunächst die bis heute bestehende Schwierigkeit auf, den durchaus erkannten rechtsschöpferischen Gehalt richterlicher Entscheidungen[123] staatstheoretisch und dogmatisch zu fassen. Weiter zeigt sich die strenge Scheidung von Gesetzgebung und Vollziehung, gekoppelt an die Programmatik, dass die Vollziehung im Gesetz ihre legitimatorische und rechtliche Grundlage finden soll. Der den meisten deutschen Verfassungen jener Zeit zugrundeliegende politische Kompromiss zwischen den liberalen und den monarchischen Kräften läuft darauf hinaus, dass die für die Bürger wesentlichen Entscheidungen in Gesetzesform getroffen werden und das Verwaltungsrecht die Wahrung dieses Kompromisses beim Vollzug durch die monarchisch bestimmte Verwaltung sicherstellt. Entsprechend wird der Rechtsstaat im deutschen Konstitutionalismus im Gesetz und die Verwaltung als Institution des Gesetzesvollzugs zentriert. Dem entspricht eine führende Rolle der Juristen in der deutschen Verwaltung,[124] die inzwischen allerdings, wie in vielen gesellschaftlichen Bereichen, bröckelt.
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Dieses Konzept der Verwaltung als einer (ausschließlich) gesetzesvollziehenden Gewalt hat die Wirklichkeit der Verwaltung natürlich nie völlig eingefangen, schon gar nicht im Kaiserreich. Es war immer klar, dass sich die Verwaltung nicht in der juridischen Gesetzesanwendung erschöpft, und selbst der Grad der Bindung durch das Gesetz war stets umstritten,