Ius Publicum Europaeum. Martin Loughlin
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So defizitär dieses Verständnis auch ist, für das Kaiserreich sind Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes große Errungenschaften. Denn sie führen zu einer Verrechtlichung der Beziehungen zwischen Staat und Untertan, worin ein erstes Moment der Anerkennung liegt. Insbesondere gegen Interessen des Bürgertums, also gegen individuelle Freiheit und Eigentum gerichtete staatliche Handlungen sollen nicht länger als bloße Tatsache akzeptiert werden müssen, sondern in ihren Voraussetzungen, Folgen und vor allem hinsichtlich der gegen sie zur Verfügung stehenden Rechtsmittel rechtlich geregelt sein. Aus diesem Programm heraus entwickelt sich, was über lange Zeit als rechtswissenschaftliche Systembildung das identitätsprägende Moment des deutschen Verwaltungsrechts sein soll: die Bestimmung, welche Regeln auf welche hoheitlichen Handlungen anwendbar sind, wie deren Einhaltung kontrolliert werden kann und welche Folgen eine Rechtswidrigkeit zeitigt.
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So unterbreitet Paul Laband die Rechtsform der Verfügung als Handlungsform, anwendbar auf alle individualbezogenen Handlungen aller Verwaltungszweige, und beschreibt ihre rechtlichen Voraussetzungen sowie die Folgen eines illegalen Verfügungserlasses.[128] In seiner Nachfolge entwickelt Otto Mayer in seinem wegweisenden Lehrbuch von 1895[129] die klassische Handlungsform für einseitige rechtliche Maßnahmen des Staates gegenüber einzelnen Bürgern, die er in Analogie zum französischen acte administratif „Verwaltungsakt“ nennt. Dogmatisch ist dieser am Vorbild des gerichtlichen Urteils und seiner Titelfunktion orientiert,[130] was den Unterschied zum bürgerlichen Recht betont. Mayer zielt auf eine rechtliche Handlungsform, die ähnlich einem Gerichtsurteil die Verwaltung in die Lage versetzen soll, die Rechte und Pflichten von Individuen in vollstreckbarer Weise festzulegen. Insoweit bestätigt er den hoheitlichen Charakter administrativen Tuns: Eingriffe sind ohne gerichtliche Entscheidung möglich. Wie ein Urteil muss auch der Verwaltungsakt, solange er nicht durch einen actus contrarius einer befugten Behörde oder eines Gerichts aufgehoben ist, befolgt werden (sog. Tatbestandswirkung). Der Verwaltungsakt bildet eine dem allgemeinen Kompromisscharakter des Konstitutionalismus entsprechende Handlungsform, die sowohl auf die Effektivität administrativer Maßnahmen als auch, da konstitutiv gerichtlich kontrollierbar, auf den Schutz individueller Rechte abzielt. In ihm findet das Verwaltungsrecht des Konstitutionalismus seine konzeptionelle Mitte. In Max Webers Abstraktion wird dieser formale Ansatz zum Inbegriff moderner Staatlichkeit.[131]
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Der Verwaltungsakt ist als ein begriffliches Instrument konzipiert, das der „flutenden Masse der Verwaltungstätigkeit“ (Otto Mayer) Struktur gibt, aufgrund ihrer normativen Natur aber zugleich Grenzen aufzeigt.[132] Methodisch ist diese verwaltungsrechtliche Konstruktion ebenso typisch wie problematisch. Sie ist weder rein deduktiv aus der Idee des Rechtsstaates gewonnen, noch rein induktiv durch Abstraktion positiven Rechts generiert. Es handelt sich vielmehr um eine gleichsam intuitive Dialektik, inspiriert durch Praxis und Prinzipien: In einem wechselseitigen Prozess definiert Mayer Rechtsnatur und Folgen des Verwaltungsakts auf abstrakt-normativer Ebene und „entdeckt“ diese Handlungsform quasi empirisch in einer Vielzahl von Fällen in der Verwaltungspraxis.[133] Das Hauptverdienst seiner Konstruktion besteht darin, der Verwaltung die Erfüllung ihrer Aufgaben zu erleichtern und sie gleichzeitig transparenter sowie auf Initiative des Betroffenen gerichtlich kontrollierbar zu machen. Das stärkt die Legitimität staatlicher Maßnahmen. Vielleicht erklärt sich so der Erfolg von Mayers Konzept des Verwaltungsakts, das nach seiner ersten Veröffentlichung von Lehre und Praxis schnell aufgenommen wurde und schließlich im Verwaltungsverfahrensgesetz von 1976, wenngleich in modifizierter Form, kodifiziert werden sollte.
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Rückblickend erscheint die Mitte des rechtsstaatlichen Verwaltungsrechts als Schöpfung der Wissenschaft.[134] So bedeutsam der französische Einfluss dabei war, so verdienen doch zwei Unterschiede Beachtung: Die dogmatischen Grundkategorien des deutschen Verwaltungsrechts beruhen auf einer entwickelten Dogmatik des Staatsrechts,[135] während in Frankreich die Dogmatik des Verwaltungsrechts jener des Verfassungsrechts vorangeht; es gab in Frankreich keine dem deutschen ius publicum vergleichbare Tradition.[136] Zudem ist die Rolle der Gerichte und Richter recht verschieden. Während die Dogmatik des französischen Verwaltungsrechts auf den Entscheidungen des Conseil d’État und den Veröffentlichungen seiner Mitglieder beruht,[137] beherrschen Professoren die verwaltungsrechtliche Dogmatik in Deutschland. Gerichtsurteile erlangen nicht die Zentralität, wie sie für das französische verwaltungsrechtliche Denken typisch ist. Ein sprechendes Detail: In Deutschland werden Gerichtsentscheidungen in der Regel nicht im Text als Gegenstand des Systembaus abgehandelt, sondern in den Fußnoten zur Bestätigung wissenschaftlicher Überlegungen angeführt. Dies entspricht dem Systemanspruch im deutschen Denken, dem es wesentlich zu verdanken ist, dass das deutsche Verwaltungsrecht an Bedeutung mit dem französischen gleich ziehen und sich zu einem eigenen Typus verdichten konnte.[138]
2. Die Ausbildung der Verwaltungsgerichtsbarkeit
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Das rechtsstaatliche Verwaltungsrecht verlangt Normativität, und Normativität ist ohne gerichtliche Institutionen kaum zu denken:[139] Der Rechtsstaat verlangt gerichtlichen Rechtsschutz.[140] Man kann die Entwicklung des Verwaltungsrechts im 19. Jahrhundert als Ausdifferenzierung desjenigen Teils des Staatsrechts sehen, dessen Einhaltung unabhängige Institutionen auf eine Klage hin rechtlich zu prüfen haben. Keine andere verwaltungsrechtliche Institution symbolisiert so gut wie der gerichtliche Rechtsschutz die Idee der Anerkennung. Dementsprechend findet das verwaltungsrechtliche Denken, ähnlich wie in vielen Staaten, über lange Jahre seinen Fokus in dieser Perspektive.
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Das lenkt den Blick auf die Entwicklung der einschlägigen Gerichtsbarkeit. Die Trennung der Verwaltungsrechtsprechung von der Verwaltung ist ein Phänomen des 19. Jahrhunderts. Zuvor sind Rechtspflege und Administration funktional wie institutionell oft eng verwoben,[141] eine Konstellation, wie man sie heute auf internationaler Ebene findet, etwa bei der Streitbeilegung in der Welthandelsorganisation oder in der Weltbank.[142] Die „Administrativjustiz“ des Landesherrn überwacht die Ausübung von Hoheitsgewalt durch nachgeordnete Stellen mit Blick auf die „wohlerworbenen Rechte der Bürger“; institutionell und organisatorisch aber bleibt sie Teil der Verwaltung. Den zum Teil noch ständisch verhafteten (ordentlichen) Gerichten sind derartige Streitigkeiten weitgehend entzogen.[143] Damit hilft die Administrativjustiz, wenngleich rechtsstaatlich gewiss mangelhaft, letztlich auch bei der Überwindung ständestaatlicher Verhältnisse.
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Im Zuge der konstitutionalistischen Bewegung gerät die exekutive Einbindung der Kontrollinstanzen zu Beginn des 19. Jahrhunderts bald unter Druck. Die Forderung nach einer unabhängigen