Ius Publicum Europaeum. Andrzej Wasilewski
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Entsprechende Sonderrechtsregime von Kompetenzen, Verfahren, aber natürlich auch Pflichten gegenüber privaten Rechtssubjekten gibt es im Recht der Europäischen Union ebenso wie in allen Mitgliedstaaten, einschließlich des Vereinigten Königreichs.[81] Insofern haftet diesem „Sonderrecht“ der öffentlichen Gewalt gegenüber dem Einzelnen auch nicht automatisch das Odium des bürokratischen Bonapartismus an. Das Unionsrecht verpflichtet die Mitgliedstaaten, ihre verwaltungsrechtlichen Sonderrechtsregime für die Durchführung unionalen Rechts zu nutzen.[82] Die mitgliedstaatlichen Organe sind bei dieser Umsetzung funktional Organe der unionalen Rechtsordnung, also bei Erlass unionsrechtlich gebotener Rechtsakte, bei der Durchsetzung von Unionsrecht im Einzelfall, bei der gerichtlichen Kontrolle. Deshalb stellt das Fehlen von unionseigenen Zwangsmitteln den Sonderrechtscharakter des unionalen Verwaltungsrechts mit Blick auf private Rechtssubjekte nicht in Frage. Anders formuliert: So dialogisch der europäische Verwaltungsverbund unter den beteiligten Hoheitsträgern auch verfahren mag (dazu sogleich), gegenüber privaten Rechtsträgern agiert er primär als Herrschaftverbund. Der Sonderrechtscharakter des Unionsverwaltungsrechts beruht somit darauf, dass es bürokratische Apparate begründet oder aber mit Instrumenten ausstattet, die sie zu Institutionen der Herrschaft werden lassen. Wenngleich das Unionsverwaltungsrecht die Grundlage für zahlreiche Dienstleistungen, Informationsangebote und andere Wohltaten ist, so kann doch mittels der Kategorie des Sonderrechts ein Kern identifiziert werden, der sich in der Tradition öffentlich-rechtlichen Denkens als identitätsprägend für die Disziplin anbietet.
cc) Herausforderungen dieses Sonderrechtsverständnisses
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Das traditionelle Sonderrechtsverständnis des Verwaltungsrechts geht oft Hand in Hand mit einem Fokus auf die individualisierende Tätigkeit gegenüber privaten Rechtssubjekten. Dies hat natürlich immer weite Bereiche der Verwaltungstätigkeit ausgeblendet. Unter dem Unionsrecht wäre es nun aber geradezu abwegig, das Unionsverwaltungsrecht allein mit diesem Fokus auf verwaltungsrechtlichen „Endprodukten“ gegenüber privaten Rechtssubjekten zu bearbeiten, denn dies würde wesentliche Herausforderungen des europäischen Rechtsraums verkennen.
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Bereits die Begrifflichkeit des Primärrechts legt nahe, ein deutlich weiteres disziplinäres Aufmerksamkeitsspektrum zu wählen. Art. 197 und 291 AEUV verwenden zur Bezeichnung von Verwaltungsaufgaben nicht den Begriff Anwendung, sondern den weiteren Begriff der Durchführung (englisch: implementation). Dieser Begriff erfasst neben dem konkreten Vollzug zahlreiche weitere bürokratische Tätigkeiten: implementierende Rechtsetzung, die Erbringung von Leistungen sowie andere Maßnahmen als Rechtshandlungen, etwa die Verbreitung von Informationen wie Rankings oder best practices.[83] Der Begriff des Durchführens korrespondiert, wie Art. 17 Abs. 1 Satz 4 und 41 Abs. 1 EUV zeigen, mit dem Begriff des Verwaltens: Es geht um die Implementation politischer Entscheidungen.[84] Die damit regelmäßig einhergehende intensive Regelung bürokratischer Aktivitäten zeigt entsprechenden Forschungsbedarf an. Die administrative Vorbereitung politischer Entscheidungen fällt hingegen aus diesem Begriff heraus.[85]
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Die Fokussierung allein auf verwaltungsrechtliche „Endprodukte“ würde zudem eine weitere große Herausforderung des europäischen Rechtsraums verkennen: die rechtliche Organisation des oft schwierigen und konfliktträchtigen Zusammenwirkens der Verwaltungen unterschiedlicher Verbände im europäischen Rechtsraum. Die kooperative Durchführung, das gesamte Recht der horizontalen und vertikalen Zusammenarbeit von Verwaltungen, kann kaum sinnvoll als „Sonderrecht“ bonapartistischer Provenienz begriffen werden. Dies zeigen anschaulich Art. 258 und 260 AEUV: Die europäischen Verwaltungsorgane verfügen nach den Verträgen über kein Sonderregime der Durchsetzung mitgliedstaatlicher Pflichten, sondern müssen diese grundsätzlich vor dem EuGH einklagen.[86] Wenn man diese Zuständigkeit als eine besondere Gerichtsbarkeit deuten will, so kaum in der Tradition der Verwaltungsgerichtsbarkeit, sondern eher in der einer Verfassungsgerichtsbarkeit, die wesentlich zur Schlichtung föderaler Streitigkeiten entstand.[87] Ebensowenig lässt sich dieses Verwaltungsrecht als ein Sonderrecht der einseitigen Durchsetzung begreifen. Selbst unter Berücksichtigung einiger bemerkenswerter administrativer Sanktionsmöglichkeiten von mitgliedstaatlichem Ungehorsam[88] treten doch die Verwaltungsorgane der Union, im Ganzen betrachtet, gegenüber den Mitgliedstaaten nicht als überlegener Hoheitsträger auf, der einseitig Rechtsgehorsam durchsetzt. Das europäische Recht an die Adresse der mitgliedstaatlichen Verwaltungen erscheint eher als ein Kooperations- und Koordinationsrecht, kaum als ein Sonderrecht im Sinne einer Überordnung. Der reformierte EU-Vertrag bringt dies nunmehr im Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 Abs. 3 EUV) zum Ausdruck.[89]
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Art. 4 Abs. 3 EUV bildet die vertrags- und damit verfassungsrechtliche Grundlage der Zusammenarbeit unionaler und mitgliedstaatlicher Organe im Sinne eines kooperativen Föderalismus. Viele Entscheidungen im europäischen Rechtsraum werden durch eine Vielzahl von interagierenden Organen unterschiedlicher Hoheitsträger in aufwändigen Verfahren erarbeitet und umgesetzt. Das europäische Verbundsystem ist von hoher Komplexität, und die Mechanismen zur Komplexitätsbewältigung sind zumeist kooperativ, was die Gestalt der Union in dieser Hinsicht als einen dialogischen Hoheitsträger konturiert. All dies würde aus dem Fokus der Verwaltungsrechtswissenschaft weitgehend ausgeschlossen, ginge es allein um die individualisierende Tätigkeit gegenüber privaten Rechtssubjekten. Das Recht der administrativen Kommunikation und Koordination ist für das Gelingen des europäischen Rechtsraums von entscheidender Bedeutung und verdient deshalb intensive verwaltungsrechtswissenschaftliche Aufmerksamkeit.
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Eine Wissenschaft des Unionsverwaltungsrechts, die sich allein um rechtsgestaltende, insbesondere belastende Maßnahmen gegenüber privaten Rechtssubjekten kümmert, kann heute kaum überzeugen. Doch auch in einem breiten Zuschnitt, der sich mit der ganzen Vielfalt bürokratischer Implementationsinstrumente befasst und die komplexen rechtlichen Mechanismen administrativer Kooperation im Verwaltungsverbund in den Blick nimmt, bleibt das Verständnis des Unionsverwaltungsrechts als Sonderrecht leistungsfähig, da es den verfassungsrechtlich problematischen Kern auch der diversen Implementationsinstrumente und der Verwaltungskoordination bezeichnet. Denn diese administrativen Instrumente und die interadministrative Kooperation dienen regelmäßig der Effektivierung und Verstärkung eines bürokratischen Zugriffs auf die administrés, so ein aussagekräftiger französischer Begriff.[90] Vielen Bürgern erscheint der Gesamtkomplex aus europäischen und staatlichen Bürokratien als nahezu kafkaesker Apparat.[91] Bei manchen überstaatlichen Politiken erscheinen ihnen die steuernden und damit verantwortlichen Subjekte nicht nur unverletzlich wie einstmals der Landesherr des Policeyrechts, sondern sogar oft unsichtbar und unfassbar.[92] Mit einer Konzeption des Unionsverwaltungsrechts als Sonderrecht kann die Disziplin dieses fundamentale Problem in die Mitte ihres Wirkens stellen und zugleich einen Impetus zu dessen Bearbeitung gewinnen. Dies führt zum nächsten Punkt.