Einführung in das Verfassungsrecht der USA. Guy Beaucamp
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Zum politischen Hintergrund des deutschen Grundgesetzes lässt sich sagen, dass in Deutschland eine gewisse Kompromissorientierung vorherrscht, seit der Ära Adenauer hat keine Partei mehr allein regiert, immer gab es Koalitionen[37], vielfach sogar große Koalitionen – das wäre in den USA nicht denkbar. Die beiden großen politischen Lager, die Demokraten und die Republikaner, liegen in vielen Fragen weit auseinander, etwa wenn es um Minderheitenschutz, Einwanderung, Religion, Klimaschutz, Abtreibung[38] oder Waffennutzung[39] geht[40]. Diese Konfrontation der beiden Lage war auch beim Umgang mit dem Corona-Virus zu beobachten[41]. Viele Beobachter konstatieren für die letzten Jahre sogar eine politische Spaltung des Landes[42], eine extreme Zuspitzung[43] und Polarisierung[44] in Hinblick auf das Verhältnis der beiden großen Parteien sowie ihrer jeweiligen Wählerschaften zueinander[45], die bisweilen zu politischer Blockade und Handlungsunfähigkeit führt[46]. Politische Auseinandersetzungen scheinen in den USA härter und persönlicher ausgetragen zu werden, der irrationalen Wut wird in den Medien viel Platz eingeräumt[47]; der frühere Präsident Obama wurde von manchen mit Hitler oder Mussolini verglichen[48]. Es scheint weniger „common ground“ zu geben[49], der jedoch für den Erfolg eines demokratischen Gemeinwesens zentral ist[50]. Angst vor sozialem Abstieg, Angst vor allem Fremden, sogar dem Fortschritt, – so ein Beobachter – überdecke manchmal den grundlegenden amerikanischen Optimismus[51].
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Ohne hier in die Details gehen zu können, scheinen auch die Medien in beiden Staaten unterschiedlich geprägt zu sein. In den USA werden Medien häufig nicht mehr als neutral wahrgenommen[52], sondern dem jeweils anderen Lager zugeordnet. Dies gilt sowohl für die großen Zeitschriften, wie die New York Times und die Washington Post, als auch für die zahlreichen Nachrichtensender des Radios oder Fernsehens sowie die neuen sozialen Medien[53].
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Ein weiterer grundlegender Unterschied zwischen den beiden Staaten, der sich auch auf die Verfassung auswirkt, liegt in ihrer Geographie und ihrer weltpolitischen Bedeutung. Die Idee einer „splendid isolation“ ist für Deutschland als Land mit vielen Nachbarn in der Mitte Europas nicht praktikabel, die Idee einer europäischen Einigung ist indes aus aktuell machtpolitischen Gründen sowie aus der historischen Erfahrung zweier Weltkriege auf europäischem Boden[54] sinnvoll und in der Präambel zum Grundgesetz benannt. Von ihrer geographischen Lage, ihren Bodenschätzen, ihrer Wirtschaftskraft, ihrer Bevölkerungszahl und ihrer militärischen Stärke her gesehen können die USA dagegen auch allein bestehen[55]. Die von vielen angenommene Sonderstellung der USA findet sich bisweilen auch in einer Geringschätzung von Rechtsvergleichung, internationalen Gerichten und multilateralen Organisationen ausgedrückt[56]. Der Supreme Court hat in einem Fall, der die Missachtung des für die USA bindenden Wiener Übereinkommens über konsularische Beziehungen betraf, entschieden, dass die Gerichte der Bundesstaaten solange nicht an einen völkerrechtlichen Vertrag und ein die Missachtung feststellendes Urteil des Internationalen Gerichthofs in Den Haag gebunden sind, bis der Kongress ein dahingehendes Bundesgesetz erlassen hat[57]. Deutschland dagegen hat hohes Interesse an internationaler Einbindung, was sich am Europaartikel (Art. 23 GG)[58], seiner völkerrechtsfreundlichen Rechtsordnung[59], seiner Berücksichtigung der Europäischen Menschenrechtskonvention als Auslegungshilfe für die Grundrechte[60] und seinem – allein durch das europäische Projekt – starkem Interesse an internationaler Rechtsvergleichung zeigt[61].
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Ein weiterer interessanter Erklärungsansatz für Unterschiede zwischen dem deutschen und dem US-amerikanischen Verfassungsrecht nimmt die jeweilige Relevanz von Vernunft und Volkssouveränität in den Blick. Die These lautet, dass westeuropäische Verfassungsgerichte auf einer gleitenden Skala dieser beiden Werte, die beide für demokratische Verfassungen wichtig sind[62], eher die Vernunftargumente, z.B. das Allgemeinwohl, Interessenabwägungen und Verhältnismäßigkeitsüberlegungen höher gewichteten, wohingegen der US-amerikanische Supreme Court sich eher als Stimme des Volkes begreife[63]. So könnte erklärt werden, dass vom Supreme Court gefordert wird, dass er nicht gegen die Meinung der Bevölkerungsmehrheit entscheiden und nicht die Meinung elitärer Kreise durchsetzen dürfe[64]. Als Anhaltspunkt für diese Idee lassen sich ferner der neunte und der vierzehnte Zusatzartikel heranziehen, die beide weitere ungeschriebene Rechte des Volkes annehmen[65]. Die stärkere Betonung der Bevölkerungsmeinung macht es auch verständlicher, dass es in der Debatte um zweifelhafte Präzedenzfälle ein wichtiges Argument ist, ob sie in der Öffentlichkeit weitgehend Zustimmung gefunden haben und befolgt werden; dann sollen sie aufrechterhalten werden, selbst wenn ihre rechtliche Überzeugungskraft gering ist[66].
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Ein letzter gravierender Unterschied: Obwohl beide Staaten seit Jahrzehnten Einwanderungsländer sind, prägt die Einwanderung die USA historisch stärker. Nahezu jeder Amerikaner hat einen Einwanderungsstammbaum[67]. Es gibt also eine viel geringere ethnische Homogenität in den USA als in Deutschland, sodass die Verfassung als gemeinsames Band wichtiger wird[68]. Dies mag auch erklären, dass eine quasi-religiöse Überhöhung der Verfassung, ihrer Schöpfer und ihrer Institutionen[69], die man nicht selten in den USA antreffen kann, in Deutschland unbekannt ist.
Anmerkungen
http://www.constitutionfacts.com/us-constitution-amendments/fascinating-facts/
Wissenschaftlicher Dienst des Bundestags, 60 Jahre GG, Zahlen und Fakten, S. 6.
http://www.constitutionfacts.com/us-constitution-amendments/fascinating-facts/
Wissenschaftlicher Dienst des Bundestags, 60 Jahre GG, Zahlen und Fakten, S. 5.
Amar (2012), S. 208 u. 309; Chemerinsky S. 18; Glendon, S. 95, 106.
Wieser, S. 119; Glendon, S. 95, 110; Grimm, ZfP 2019, 86, 94; Beaucamp/Beaucamp, S. 64 m.w.N. für das GG.
Heringa, S. 4 f.
Tushnet, S. 1, 39 u. 118.
Tushnet, Comparative, S. 7.