Kriminologie. Tobias Singelnstein
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Kriminologie - Tobias Singelnstein страница 10
Darum kann die Kriminologie, wie die Sozialwissenschaften überhaupt, nicht mit der unbezweifelbaren Autorität einer „exakten“ Wissenschaft auftreten. Dennoch unterscheiden sich wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit Kriminalität von Debatten in den Medien, der Politik oder am Stammtisch. Was die Wissenschaft auszeichnet, ist das reflexive Bewusstsein ihrer Perspektivengebundenheit, ihr Bemühen um Unbefangenheit und die diskursive Begründung ihrer Annahmen. Dies soll im folgenden Abschnitt genauer erläutert werden.
§ 3 Das Problem kriminologischer Unbefangenheit
[46] Lektüreempfehlung: Kunz, Karl-Ludwig (2008): Die wissenschaftliche Zugänglichkeit von Kriminalität. Wiesbaden, 35-53; Sack, Fritz (1996): Kriminalität dementieren – sonst nichts? KrimJ 28, 297-300.
1
An sich ist es erwünscht und soweit möglich geboten, sich bei der wissenschaftlichen Annäherung an Kriminalität von der schillernden Ambiguität der Empfindungen zu lösen. Die Faszination der Kriminalität, ihr geheimnisvoller und leidenschaftlicher Gehalt, löst in uns wie kaum sonst ein Thema Empfindungen des Mitgefühls und der Abscheu, der Neugier und der Verängstigung aus, deren Widerstreit nicht zum Ende kommt, sondern sich problembezogen immer wieder neu entzündet. Die von der Kriminalität in uns ausgelöste Erregung (ver)leitet unsere Wahrnehmungsgabe, (ver)führt uns zu einseitigen Schlüssen, macht uns in Vorurteilen befangen. Unsere subjektiven Vorstellungen über Kriminalität sind stark durch unsere Lebensgeschichte und durch persönliche Erlebnisse in Rollen wie denen des Opfers, der mitfühlenden Angehörigen, der spitzbübisch über ein gelungenes Ganovenstück sich freuenden Zeitungslesenden geprägt. Die subjektive Wahrnehmung und Einstellung zur Kriminalität ist kontextabhängig. Dieser Kontext ist anderen kaum je vollständig vermittelbar, ist vielfach uns selbst gar nicht bewusst. Eigene Wahrnehmung vermischt sich in der Erinnerung mit Berichten vom Hörensagen. Unmittelbare Erfahrungen werden überlagert durch vielerlei Aufarbeitungen des Themas in Presse und Literatur, auf die wir je nach Geschmack zurückgreifen und die unser Vorstellungsbild unterschiedlich prägen. All dies erschwert einen möglichst vorurteilslosen, allgemein nachvollziehbaren Zugang zum Thema.47
2
Ausdruck eines solchen möglichst wertungsfreien Zugangs zum Thema ist die Ablösung der Bezeichnungen „Kriminelle:r“ und „Kriminalität“ durch den Begriff des „abweichenden“ oder „devianten“ Verhaltens. Damit soll von einer einseitig negativen, stigmatisierenden Wertung Abstand genommen und ein unbefangener, sich moralischer Parteinahme enthaltender Zugang erleichtert werden. Zugleich werden damit Verbindungslinien gezeichnet zu anderen, nicht strafbaren sozialen Auffälligkeiten. Mag es sich auch um eine zunächst gekünstelt wirkende Beschreibung handeln – das Verständnis der Kriminalität als sozial abweichendes Verhalten, dessen Eigenart allein in der Abweichung von gesellschaftlich herrschenden Normen besteht, ist eine tragfähigere Basis [47] für eine Wissenschaft, die sich dem Anspruch eines möglichst vorurteilsfreien Studiums stellt.
3
In der Regel wird die gebotene wissenschaftliche Unbefangenheit sehr radikal dahin verstanden, die Wissenschaft müsse strikt „wertfrei“ und „objektiv“ vorgehen. Gefordert ist eine Trennung der emotional befrachteten lebenspraktischen Wahrnehmung von der wissenschaftlichen Untersuchung. Letztere müsse von den Trübungen dieser Wahrnehmung gereinigt, rein „wertneutral“, also gleichsam auf einer kognitiven tabula rasa erfolgen. In den Naturwissenschaften erscheint diese Auffassung noch einigermaßen plausibel, obwohl auch die modernen Naturwissenschaften ihren fragwürdigen Rigorismus nicht mehr teilen48: Chemiker:innen, die eine unbekannte Reagenz auf ihre Bestandteile analysieren, mögen dabei von Neugier, Wissensdurst und Streben nach Reputation geplagt sein. Solange sie die Regeln der experimentellen Forschung einhalten, werden sie ungeachtet des eigenen möglichen Interesses an spektakulären Ergebnissen einigermaßen „wertneutral“ zu „objektiven“ Erkenntnissen gelangen.
4 Dies gilt für die Kriminalität so nicht. Sie ist nie reines Objekt, das unabhängig vom erkennenden Subjekt existiert und – nur deshalb und nur dann – in theoretischer Distanz streng „wertneutral“ analysiert werden könnte. Kriminalität ist ein gesellschaftlicher Gegenstand, an dem Forschende als gesellschaftliche Subjekte immer schon je spezifisch Anteil haben, und den sie aus ihrer je besonderen persönlichen Perspektive wahrnehmen. Eine völlige Befreiung von dieser Perspektive, die die Forschenden gleichsam auf einen fremden Stern versetzen und ihnen dadurch den objektiven Blick auf die Gesellschaft verschaffen würde, ist weder möglich noch zur Erlangung der gebotenen Unbefangenheit nötig. Strenge „Objektivität“ bedeutet die Illusion der Möglichkeit eines Blicks von Nirgendwo.49 Stattdessen geht es darum, angesichts der zwangsläufigen Eingebundenheit der Forschenden in eine spezifische Lebenspraxis, welche auch spezifische Vorstellungen über Kriminalität vermittelt, Unbefangenheit herzustellen: Es gilt, sich bei wissenschaftlichen Aussagen über Kriminalität die Subjektivität der eigenen lebenspraktischen Einstellung zu dem Thema reflexiv bewusst zu machen, sich so gut wie möglich davon im Erkenntnisvorgang zu distanzieren, sich für Deutungsmöglichkeiten zu öffnen, die von dem eigenen Vorstellungsbild abweichen, und quer zu antrainierten Mustern zu denken.
5
[48] Kriminolog:innen gewinnen in dem Maße wissenschaftliche Unbefangenheit, wie es ihnen gelingt, die Selbstevidenz vertrauter Kriminalitätswahrnehmungen zu meiden, sich von routinemäßigen Denkhaltungen zu befreien und am gesellschaftlichen Diskurs über Kriminalität gleichsam wie irritierende Fremde teilzunehmen, welche Fragen stellen, auf die andere nicht kommen. So lässt sich die Wissenschaftlichkeit der Kriminologie in ähnlicher Weise bestimmen, wie Zygmunt Bauman (1925-2017) dies für die Soziologie tut. Damit distanziert sich dieses Verständnis wissenschaftlicher Unbefangenheit deutlich von dem Postulat des „wertfreien“ Erkennens.
„One could say that the main service the art of thinking sociologically may render to each and every one of us is to make us more sensitive; it may sharpen up our senses, open our eyes wider so that we can explore human conditions which thus far had remained all but invisible […] Sociological thinking is, one may say, a power in its own right, an antifixating power. It renders flexible again the world hitherto oppressive in its apparent fixity; it shows it as a world which could be different from what it is now. It can be argued that the art of sociological thinking tends to widen the scope, the daring and the practical effectiveness of your and my freedom. Once the art has been learned and mastered, the individual may well become just a bit less manipulable, more resilient to oppression and regulation from outside, more likely to resist being fixed by forces that claim to be irresistible.“50
6 Im Bemühen um eine objektive wissenschaftliche Erkenntnis wurde um die Jahrhundertwende von Anhänger:innen des sogenannten Logischen Empirismus die Auffassung vertreten, werturteilsbehaftete moralische Aussagen seien schlechthin unzulässig. Diese rigoros metaphysikfeindliche These wurde im Kritischen Rationalismus von Karl Popper (1902-1994) abgeschwächt. Aus der Einsicht, dass Forschende als Menschen zu einem gesellschaftlichen Forschungsgegenstand ein je spezifisches Verhältnis haben, das auch ihr Forschungsverhalten bestimmt, wurde abgeleitet, werturteilsbehaftete Aussagen seien Forschenden wie allen anderen sonst im politisch-moralischen Diskurs unbenommen, im Forschungsprozess haben sie sich ihrer aber zu enthalten. Das Problem, wie dies möglich sei, sucht Popper mit einer Analogie zum Kaffeetrinken zu lösen: Die notwendig auf eine subjektive Stellungnahme hinauslaufende Anteilnahme der Forschenden am gesellschaftlichen Forschungsgegenstand entfalte eine bloß anregende Wirkung wie der Kaffee, den der:die Chemiker:in vor Erstellen des Experiments genieße. Sofern nur die Forschung selbst nach dem Modell eines naturwissenschaftlichen Experiments durchgeführt [49] werde, seien deren Befunde objektiv gültig. Erst die Tilgung,