Kriminologie. Tobias Singelnstein
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Aus diesem Befund lassen sich mehrere Konsequenzen ziehen. Erstens besteht Bedarf für eine alternative verstehende kriminologische Erkenntnismethode, die
■ die Unvoreingenommenheit des Erkennens anders als durch das uneinlösbare Postulat strikter Wertfreiheit erstrebt;
■ die zu beobachtenden Subjekte als intentional handelnde Akteur:innen und nicht als in ihrem Verhalten determinierte Objekte versteht;
■ die sich auf die Komplexität der zu erschließenden Wirklichkeit einlässt, anstatt die Wirklichkeit auf die mit standardisierten Erhebungsverfahren sichtbar zu machenden Merkmale zu reduzieren.
Eine solche sich interpretativ verstehende Forschung gewinnt gerade bei einem kritischen, für unkonventionelle Perspektiven aufgeschlossenen Publikum immer stärkere Bedeutung.
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Zweitens sind neben der dem Verstehensmodell (→ § 2 Rn 11 ff.) folgenden qualitativen Forschung andere Zugangswege zu den Phänomenen von Kriminalität und Kriminalisierung von Interesse: Etwa die Strafrechtsgeschichte, die bildhaft und hautnah Kontrast- und Analogieerlebnisse zur aktuellen Situation zu vermitteln weiß.59 Die Romanliteratur, welche die menschlichen Aspekte von Kriminalität und Strafverfolgung veranschaulicht60 und uns in die Abgründe der Psyche von Täter:innen, Opfern und Verfolgenden blicken lässt61. Die Poesie von Charles Baudelaire, welche die „Blumen des Bösen“ zum Erblühen bringt.62 Die Gerichtsreportagen von Sling, dem Klassiker des Genres.63 Die Briefe aus dem Gefängnis von Vaclav Havel und Antonio Gramsci.64 Filme wie Stanley Kubricks „Clockwork Orange“ und Milos Formans „Einer flog über das Kuckucksnest“. Oder nicht zuletzt ganz unvermittelt das Gespräch mit Inhaftierten, Opfern und deren hinterbliebenen Angehörigen.
§ 4 Geschichte der Kriminologie
I. Anfänge und Wegbereiter kriminologischen Denkens
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[53] Überlegungen zu den Gründen des Straffälligwerdens und zur sozialen Funktion der Strafe finden sich bereits bei den griechischen Philosophen Plato (427-347 v. Chr.), Aristoteles (384-322 v. Chr.) und Hippokrates (460-377 v. Chr.). Das Mittelalter begreift das Verbrechen als Sünde wider Gott und sperrt sich damit gegen weltliche Kriminalitätserklärungen. Immerhin stützt sich das mittelalterliche Inquisitionsverfahren auf experimentelle Techniken der Gerichtsuntersuchung. Seit Beginn des 14. Jahrhunderts sind Bemühungen um eine richterliche Erforschung der materiellen Wahrheit durch Leichenöffnung und Leichenschau bekannt. Die Peinliche Gerichtsordnung Karls V. (Constitutio Criminalis Carolina, 1532) schreibt bei Tötung und Kindstötung den Sachverständigenbeweis zur empirischen Abklärung der Verbrechensursache vor. Humanismus und Renaissance vermitteln ein neues säkularisiertes Weltbild, das den Menschen als konkretes Individuum in den Mittelpunkt stellt. Die Säkularisierung erfasst auch das Strafrecht, das sich nunmehr von seinen religiösen Bezügen löst und [54] nach einer weltlichen Begründung der Strafe sucht. Spekulationen über gesellschaftliche Verbrechensursachen lösen erstmals eine Kritik der geltenden Strafpraxis aus. So stellt der Humanist Thomas Morus (1478-1535) die bezeichnende Frage nach der „Herkunft der Diebe“ und schlägt eine vorbeugende Kriminalitätsbekämpfung durch Minderung von Armut und Elend vor.65
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Eine systematische Befassung mit Kriminalität setzt im 18. Jahrhundert ein. Die französische Aufklärungsphilosophie bekämpft die „Unvernunft“ mythisch-religiöser Vorstellungen und postuliert die Ideale der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Damit liefert die Aufklärung die methodischen Instrumente einer Kritik der diesen Idealen widersprechenden Sozialordnung des Ancien Régime. Die Verwirklichung dieser Ideale bildet die politische Rechtfertigung der Revolution von 1789. Indem die französische Aufklärungsphilosophie einerseits die Entfaltung säkularer Wissenschaften beflügelt und andererseits eine kritische, auf politische Veränderungen hin abzielende Gesellschaftstheorie anleitet, bildet sie die Basis für eine bipolare Entwicklung der Gesellschaftswissenschaften, die alsdann in zwei Lager auseinanderdriften. Das eine Lager übernimmt die in den rasch expandierenden exakten Naturwissenschaften entwickelten Methoden empirischer Beschreibung und Erklärung in die Gesellschaftswissenschaften und unterwirft diese einem sozialtechnologischen Erkenntnisinteresse. Das andere Lager bezieht Ideale, die auf eine Gesellschaftsveränderung abzielen, in die Theoriebildung ein und verfolgt damit ein kritisches Erkenntnisinteresse.
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Beide Lager finden sich in der Folge zeitversetzt in der Kriminologie vertreten: Während die Klassische Schule der Kriminologie des 18. Jahrhunderts noch beide Erkenntnisinteressen zu verfolgen trachtet, wird im 19. Jahrhundert in der anthropologisch-positiven Schule (→ § 4 Rn 19) ein sozialtechnologischer Umgang mit Kriminalität ausgebildet.
II. Die K#rn_19lassische Schule des 18. Jahrhunderts
[55] Lektüreempfehlung: Foucault, Michel (1976b): Überwachen und Strafen. Frankfurt a. M., 93-132; Naucke, Wolfgang (1989): Die Modernisierung des Strafrechts durch Beccaria. In: Deimling, Gerhard (Hrsg.): Cesare Beccaria. Heidelberg, 37-53.
4 Noch nicht 26-jährig, veröffentlicht der Mailänder Graf Cesare Beccaria Bonesana (1738-1794) 1764 ein schmales Buch unter dem Titel „Dei delitti e delle pene“ („Über Verbrechen und Strafen“). Diese bald ins Französische und ins Deutsche übersetzte Schrift entfacht in wenigen Jahren europaweit eine hitzige Debatte über Strafgesetzgebung und Kriminalpolitik. So verfasst Voltaire (1694-1778) 1766 einen Kommentar zu diesem Buch, der mit den Worten beginnt:
„Ich stand mitten in der Lektüre des kleinen Buchs über Verbrechen und Strafen, das in der Moral ist, was in der Medizin die wenigen Heilmittel sind, mit denen unsere Übel erleichtert werden können. Ich schmeichelte mir, dieses Werk werde den Rest der Barbarei im Rechtswesen so vieler Nationen verringern; ich hoffte auf einige Reformen im Menschengeschlecht […].“66
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Beccarias Werk, dessen Titel bereits den Zusammenhang des Verbrechens mit der Gesellschaft betont, liest sich heute als eine humanitäre Kritik der sinnlosen Brutalität des menschenunwürdigen Strafrechts seiner Zeit und als Grundlegung eines modernen und effizienzorientierten Strafrechts. Die in einem politisch-philosophischen Räsonnement vorgetragene Kritik wendet sich gegen ein despotisches und irrationales Strafrecht, das Handlungen ohne Rücksicht auf die Verletzung sichtbarer Rechtsgüter pönalisiert. Angeprangert werden die Nutzlosigkeit und Ungerechtigkeit der Todesstrafe und der Folter. Gefordert wird ein für alle gleiches gesetzlich bestimmtes Strafrecht, das sich an der Sozialschädlichkeit von unter Strafe gestellten Handlungen ausrichtet und das von unabhängigen gesetzlichen Richtenden vollzogen wird.
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