Kriminologie. Tobias Singelnstein

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Kriminologie - Tobias Singelnstein

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Jahren – weniger als sozialschädliches Verhalten verstanden, das nach Reaktionen verlangt, sondern eher als Risiko, das vor Schadenseintritt zu kalkulieren und kontrollieren ist. Dementsprechend haben sich die regulierenden Praktiken der Kriminalpolitik von der Reaktion zu präventiven Interventionen verlagert, wobei das staatliche Sicherheitsmonopol zugunsten von Eigenvorsorge und einer Marktöffnung für nichtstaatliche Sicherheitsanbieter:innen durchbrochen wurde. Die Kriminalprävention hat ihren Schwerpunkt von personenbezogenen sozialpolitischen und resozialisierenden Interventionen, mit denen man mutmaßliche Kriminalitätsursachen anzugehen glaubte, auf die situationsbezogene Erschwerung von Tatgelegenheiten in pragmatischen kleinen Schritten verlagert (→ § 22 Rn 18 ff.).

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       [43] Das Verstehensmodell in der Kriminologie bestimmt damit auch seinen Forschungsgegenstand in anderer Weise. Das Interesse gilt zum einen den Regeln des Gebrauchs der Kriminalitätsdefinition im gesellschaftlichen Diskurs und durch die Instanzen der Kriminalitätskontrolle – was wird unter welchen Umständen als Kriminalität verstanden? Zum anderen wird nach Regeln geforscht, denen das damit bezeichnete Verhalten folgt – warum handeln Menschen auf diese Weise? Die Kriminologie betrachtet diese Regeln des crime talk unter dem Aspekt ihres tatsächlichen Gebrauchs: Nicht in ihrer logischen Konsistenz oder der normativen Korrektheit ihrer Anwendung, sondern in ihrer tatsächlichen Verwendung in der gesellschaftlichen Praxis.

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       Die Bildung besonderer Kriminalitätserscheinungen (→ § 18) kann hier weitgehend unberücksichtigt bleiben, weil die charakteristische Besonderheit einzelner Formen von Kriminalität weniger in diesen selbst liegt, sondern in ihrer deutenden Bestimmung. Darum wäre es irreführend, „besondere Kriminalitätserscheinungen“ als gegebene Phänomene anzusehen, die durch Beobachtung in ihrer Ähnlichkeit erkannt werden könnten. Die Teile existieren nicht an sich, sondern werden erst durch Deutungen gebildet. Begriffe wie „Ausländerkriminalität“ oder „Organisierte Kriminalität“ beschreiben nicht vorrangig Phänomene, sondern sind Ausdruck gesellschaftlicher Wahrnehmungs- und Akzentuierungsbedürfnisse, die zu bestimmten Zeiten vorhanden sind und sich wandeln.

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      IV. Schlussfolgerungen

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       Vorerst ist festzuhalten, dass beide Standpunkte in der Kriminologie vertreten werden, wobei das Modell des Erklärens in der deutschen Kriminologie immer noch vorherrschend ist. Die Dominanz des Erklärens in der Kriminologie ist naheliegend, da ihr Datenmaterial weitgehend über Kriminalstatistiken verfügbar ist und der Staat als größter Auftraggeber der kriminologischen Forschung (→ § 1 Rn 8 ff.) sich bevorzugt für die quantitativ-vergleichende Bestimmung des Kriminalitätsvolumens und der Wirksamkeit staatlicher Interventionen interessiert.

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       Allerdings werden wesentliche Aspekte des Forschungsgegenstandes wie gezeigt nur bei einem Vorgehen sichtbar, das dem Verstehensmodell folgt – denn ein maßgeblicher Teil der Auseinandersetzung mit Kriminalität ist die Beschäftigung mit dem interaktiven Prozess ihrer Konstruktion durch die Beobachtenden. Einer auf kausale Erklärungen bedachten, rein objektiv und vermeintlich von außen wahrnehmenden Perspektive bleibt diese Ebene jedoch verborgen.

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       Die Kriminologie setzt sich also (auch) mit den gesellschaftlichen Sinnsetzungen bezüglich Normabweichung und Kriminalität auseinander, wobei der kriminologische Diskurs nicht vollständig unabhängig von der gesellschaftlichen Verständigung verläuft, sondern auf diesen zurückwirkt und ihn mittelbar beeinflusst. Schon bevor Kriminolog:innen sich mit Kriminalität befassten, war dies ein Thema des alltäglichen Diskurses. Kriminolog:innen greifen ein Thema auf, welches bereits mit Bedeutungen versehen ist, die die „normalen“ Leute ihm beimessen, und sie [45] müssen diese „normalen“ Bedeutungen – nicht anders als die Lai:innen es tun – reinterpretieren, um den Gegenstand ihrer Analyse zu bestimmen.

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      Schaubild 1.1: Erklären und Verstehen

Kausales Erklären Interpretatives Verstehen
Modell Monistisch: erklärt „Ursachen“ menschlichen Verhaltens wie die verursachenden Faktoren eines Naturgeschehens Dualistisch: Sinnhaftigkeit und Intentionalität der „Gründe“ des Handelns von Subjekten müssen anders als eine Naturgegebenheit bestimmt werden
Sozialwelt als Gegenstand Unabhängig von den Beobachtenden als mit ihnen nicht kommunizierendes Objekt materiell vorhanden Forschende sind mit Sozialwelt reflexiv verbunden: sie haben daran Anteil, agieren mit der Forschung in ihr und diese reagiert kommunikativ auf Forschungsergebnisse
Beobachtung Erfolgt einseitig: Beobachtende → Objekt Verläuft interaktiv: Beobachtende ↔ Objekt
Methode Quantitativ an statistischen Zusammenhängen interessiert Qualitativ an der Rekonstruktion des Sinns interessiert, den der:die Handelnde mit seinem Handeln verbindet

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       Damit stellt sich die prekäre Frage, was die kriminologische Wahrnehmung zur wissenschaftlichen macht, also vom Lai:innenverständnis unterscheidet. Die Antwort fiele nur leicht, wenn man mit dem Erklärungsmodell davon ausgehen könnte, dass die kriminologische Beobachtung in der streng objektiven wissenschaftlichen Wahrnehmung und Erklärung von Faktizität bestünde. Jedoch gibt es zur Beobachtung der Sozialwelt nicht den einen externen objektiven

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