Kriminologie. Tobias Singelnstein
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Aus heutiger Sicht ist die positive Schule angreifbar. Methodisch ist sie unzulänglich: Zu kleine Untersuchungseinheiten, kaum Vergleichsgruppen, Beschränkung auf Extremgruppen von Straftäter:innen. Ihre Rolle in der nationalsozialistischen Rassen- und Sippenforschung ließ eine Art Berührungsangst [63] gegenüber biologischen Kriminalitätserklärungen aufkommen. Freilich erlebt derzeit der Versuch, das Verbrechen auf die menschliche Natur zurückzuführen, eine neue Blüte (→ § 7 Rn 15 ff.; § 8).83
24 Die Einseitigkeit der biologischen Verbrechenserklärung ließ diese stets umstritten bleiben. Der zwischen Mediziner:innen und Psychiater:innen gegen Soziolog:innen ausgetragene Streit um den Anlagen- oder Umwelteinfluss auf die Kriminalität erschien Polizei, Strafjustiz und Strafvollzug jedoch bald als müßig. Im Interesse konkreter Reformen drängte die Praxis auf eine nicht wissenschaftlich begründete, sondern eher im Sinne eines pragmatischen Kompromisses zu verstehende Formel, dass das Verbrechen sowohl durch die Anlage als auch durch die Umwelt beeinflusst werde. Dieser Kompromiss wurde von der 1888 gegründeten Internationalen Kriminalistischen Vereinigung beschlossen und durch den Strafrechtsreformator Franz von Liszt (1851-1919) als Vereinigungsgedanken formuliert:
„Das Verbrechen ist […] wie jede menschliche Handlung, das notwendige Ergebnis aus der teils angeborenen Eigenart des Täters einerseits, der ihn im Augenblick der Tat umgebenden gesellschaftlichen, insbesondere wirtschaftlichen Verhältnisse andererseits.“84
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Ein solches „sowohl als auch“ ist weithin konsensfähig, weil es sich unter Ausklammerung eines unentscheidbaren wie unergiebigen theoretischen Disputs den kleinsten gemeinsamen Nenner der Theorieannahmen zu eigen macht. Dies entspricht nicht nur dem gerne bemühten „gesunden Menschenverstand“, der schon immer um das Körnchen Wahrheit wusste, das jeder Erklärungsmöglichkeit von Kriminalität eigen ist.
26 Die von verschiedenartigen Ursachen der Kriminalität ausgehende, also: multikausale Kriminalitätserklärung (→ § 10 Rn 24 ff.) kommt verbreiteten Vorstellungen entgegen, wie sie in einem gemäßigten kriminalpolitischen Klima, das der Prävention Vorrang vor der Repression einräumt, eine gute Sozialpolitik als die beste Kriminalpolitik versteht und die Besserung der Rechtsbrechenden zur vordringlichen Aufgabe des Strafrechts erklärt, vorherrschen. Mit seiner Marburger Antrittsvorlesung 1882 („Marburger Programm“85) beeinflusst von Liszt [64] dieses Klima maßgeblich und stellt damit die Weichen für das spezialpräventive Behandlungsstrafrecht.
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Die Vermählung von wissenschaftlicher Kriminalitätsursachenforschung mit staatlicher Kriminalitätsbearbeitung, welche die moderne Kriminologie kennzeichnet, vollendet sich um die Wende zum 20. Jahrhundert in der Generation der Schüler von Lacassagne und Lombroso. Die nachfolgende Generation entstammt verschiedenen Nationen und Berufsgruppen. Sie setzt sich aus Vertreter:innen der Medizin, der Naturwissenschaften, der Soziologie und zunehmend der Rechtswissenschaft zusammen. Sie ist nicht auf eine bestimmte Bezugswissenschaft fixiert, sondern eher an der kriminalpolitischen Nutzbarmachung des breiten Spektrums bezugswissenschaftlicher Problemzugänge.
IV. Der Ausbau der Kriminologie in den USA
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Im 20. Jahrhundert entwickelt sich die Kriminologie in den USA zu einer vom Strafrecht institutionell unabhängigen Disziplin. Das beginnende Jahrhundert verändert die nordamerikanische Gesellschaft rasch und grundlegend. Einwanderung und Industrialisierung bewirken eine Expansion der Großstädte. Die Bevölkerung Chicagos verdoppelt sich binnen 20 Jahren. Die Eingewanderten sind zumeist mittellos, finden keine oder nur schlecht bezahlte Arbeit und siedeln in Elendsquartieren. Die Prohibition erlaubt Riesengewinne aus dem illegalen Verkauf von Spirituosen, über die sich rivalisierende Banden streiten.
29 1899 wird in Chicago unter dem Einfluss der religiös-moralischen Bewegung der „Kinderretter“ das erste Jugendgericht gebildet. Mit der Gründung des American Institute of Criminal Law and Criminology 1909 in Chicago setzt eine intensive, von Anbeginn an praxisnahe Forschungstätigkeit ein. Die sogenannte Chicagoer Schule befasst sich soziologisch und sozialpsychologisch mit schädlichen gesellschaftlichen Einflüssen und erschließt das Praxisfeld der Sozialarbeit. Erklärungsbedarf besteht nunmehr für den Zusammenhang zwischen den gesellschaftlichen Lebensverhältnissen und der Kriminalität. Die aus Frankreich stammende milieubezogene Betrachtung (→ § 4 Rn 13), insbesondere die inzwischen veröffentlichten Arbeiten des französischen Soziologen Durkheim, lenken die Aufmerksamkeit auf die gesellschaftlichen Strukturen und die darin enthaltenen sozialen Spannungen (→ § 9 Rn 3 ff.). Soziale Desorganisation und Chancenungleichheit werden für die Konzentration der Kriminalität in gesellschaftlich benachteiligten Kreisen als bestimmend erkannt.
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[65] Beobachtungen zeigen, dass kriminelles Verhalten in bestimmten Kontakten „differentiell“ erlernt wird (→ § 10 Rn 13 ff.) und vom differentiell verteilten Zugang zu illegitimen Mitteln abhängt (→ § 9 Rn 24 ff.). Das Lernen erfolgt oft kollektiv, indem sich sozial Benachteiligte in einer „Subkultur“ zusammenfinden, welche Werte pflegt, die von dem dominierenden mittelschichtbestimmten Wertesystem abweichen (→ § 10 Rn 16 ff.). Feldstudien weisen darauf hin, dass Kriminelle aus der Unterschicht sich gegenüber den Wertvorstellungen ihrer Schicht konform verhalten, diese Wertvorstellungen aber von denjenigen der maßgeblichen Mittelschicht abweichen. Der „Kulturkonflikt“ erlaubt oder verlangt sogar Rechtsbrüche, um dem Wertesystem der Unterschicht treu zu bleiben.
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Daneben werden Studien zu den individuellen Ursachen kriminellen Verhaltens fortgeführt. Die rein anlagenbezogene, auf vererbliche biologische Defizite gerichtete Kriminalitätserklärung Lombrosos wird um andere mögliche biologische Faktoren ergänzt. Vor allem wird nunmehr angenommen, der Anlageneinfluss präge bloß eine Prädisposition, die sich erst unter bestimmten Umwelteinflüssen zu abweichendem und kriminellem Verhalten ausbilde (→ § 7 Rn 4 f.). Unter dem Einfluss der Psychologie und der Psychiatrie werden