Kriminologie. Tobias Singelnstein

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Kriminologie - Tobias Singelnstein

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id="ulink_ad34eab9-bd80-5627-a8f1-f3bdb741c725"> Die kriminalanthropologischen Studien Lombrosos sowie seiner Schüler Enrico Ferri (1856-1929) und Raffaele Garofalo finden in der Fachwelt unterschiedliche Wertschätzung. Für die einen sind diese Studien eine Stammwurzel der empirischen täter:innenbezogenen Kriminologie, der gerichtlichen Psychiatrie und der Rechtspsychologie.80 Für andere sind die vertretenen Annahmen grotesk und wissenschaftlich unhaltbar. Die Darstellung des „geborenen Verbrechers“ wird verbreitet als eine zerrbildliche Kuriositätenmalerei verstanden, die den Mythos von der Bestialität des „Wilden“ in eine empirische Form zu bringen sucht. Bereits die Prämisse von der Wildheit als dem Ursprung des Bösen ist wissenschaftlich nicht begründbar, wie die Gegenposition von Friedrich Nietzsche (1844-1900) belegt, der den Gewaltüberschwang des Lebens nicht bloß als Ausdruck von Gesundheit, sondern gar von Moral versteht81. Zeitgenössische empirische Studien etwa durch den Berliner Gefängnisarzt Baer und den englischen Psychiater Goring82 bestreiten die biologische Bestimmbarkeit eines Verbrecher:innentypus.

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       Ein solches „sowohl als auch“ ist weithin konsensfähig, weil es sich unter Ausklammerung eines unentscheidbaren wie unergiebigen theoretischen Disputs den kleinsten gemeinsamen Nenner der Theorieannahmen zu eigen macht. Dies entspricht nicht nur dem gerne bemühten „gesunden Menschenverstand“, der schon immer um das Körnchen Wahrheit wusste, das jeder Erklärungsmöglichkeit von Kriminalität eigen ist.

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       Die Vermählung von wissenschaftlicher Kriminalitätsursachenforschung mit staatlicher Kriminalitätsbearbeitung, welche die moderne Kriminologie kennzeichnet, vollendet sich um die Wende zum 20. Jahrhundert in der Generation der Schüler von Lacassagne und Lombroso. Die nachfolgende Generation entstammt verschiedenen Nationen und Berufsgruppen. Sie setzt sich aus Vertreter:innen der Medizin, der Naturwissenschaften, der Soziologie und zunehmend der Rechtswissenschaft zusammen. Sie ist nicht auf eine bestimmte Bezugswissenschaft fixiert, sondern eher an der kriminalpolitischen Nutzbarmachung des breiten Spektrums bezugswissenschaftlicher Problemzugänge.

      IV. Der Ausbau der Kriminologie in den USA

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       Im 20. Jahrhundert entwickelt sich die Kriminologie in den USA zu einer vom Strafrecht institutionell unabhängigen Disziplin. Das beginnende Jahrhundert verändert die nordamerikanische Gesellschaft rasch und grundlegend. Einwanderung und Industrialisierung bewirken eine Expansion der Großstädte. Die Bevölkerung Chicagos verdoppelt sich binnen 20 Jahren. Die Eingewanderten sind zumeist mittellos, finden keine oder nur schlecht bezahlte Arbeit und siedeln in Elendsquartieren. Die Prohibition erlaubt Riesengewinne aus dem illegalen Verkauf von Spirituosen, über die sich rivalisierende Banden streiten.

      29 1899 wird in Chicago unter dem Einfluss der religiös-moralischen Bewegung der „Kinderretter“ das erste Jugendgericht gebildet. Mit der Gründung des American Institute of Criminal Law and Criminology 1909 in Chicago setzt eine intensive, von Anbeginn an praxisnahe Forschungstätigkeit ein. Die sogenannte Chicagoer Schule befasst sich soziologisch und sozialpsychologisch mit schädlichen gesellschaftlichen Einflüssen und erschließt das Praxisfeld der Sozialarbeit. Erklärungsbedarf besteht nunmehr für den Zusammenhang zwischen den gesellschaftlichen Lebensverhältnissen und der Kriminalität. Die aus Frankreich stammende milieubezogene Betrachtung (→ § 4 Rn 13), insbesondere die inzwischen veröffentlichten Arbeiten des französischen Soziologen Durkheim, lenken die Aufmerksamkeit auf die gesellschaftlichen Strukturen und die darin enthaltenen sozialen Spannungen (→ § 9 Rn 3 ff.). Soziale Desorganisation und Chancenungleichheit werden für die Konzentration der Kriminalität in gesellschaftlich benachteiligten Kreisen als bestimmend erkannt.

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       [65] Beobachtungen zeigen, dass kriminelles Verhalten in bestimmten Kontakten „differentiell“ erlernt wird (→ § 10 Rn 13 ff.) und vom differentiell verteilten Zugang zu illegitimen Mitteln abhängt (→ § 9 Rn 24 ff.). Das Lernen erfolgt oft kollektiv, indem sich sozial Benachteiligte in einer „Subkultur“ zusammenfinden, welche Werte pflegt, die von dem dominierenden mittelschichtbestimmten Wertesystem abweichen (→ § 10 Rn 16 ff.). Feldstudien weisen darauf hin, dass Kriminelle aus der Unterschicht sich gegenüber den Wertvorstellungen ihrer Schicht konform verhalten, diese Wertvorstellungen aber von denjenigen der maßgeblichen Mittelschicht abweichen. Der „Kulturkonflikt“ erlaubt oder verlangt sogar Rechtsbrüche, um dem Wertesystem der Unterschicht treu zu bleiben.

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       Daneben werden Studien zu den individuellen Ursachen kriminellen Verhaltens fortgeführt. Die rein anlagenbezogene, auf vererbliche biologische Defizite gerichtete Kriminalitätserklärung Lombrosos wird um andere mögliche biologische Faktoren ergänzt. Vor allem wird nunmehr angenommen, der Anlageneinfluss präge bloß eine Prädisposition, die sich erst unter bestimmten Umwelteinflüssen zu abweichendem und kriminellem Verhalten ausbilde (→ § 7 Rn 4 f.). Unter dem Einfluss der Psychologie und der Psychiatrie werden

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